Josef Gredler

32  Die Stadt auf dem Felsen

 

   Auf der SP 74 von Manciano kommend fahren wir zeitig am Morgen Richtung Pitigliano. Zuerst wundern wir uns, dass so wenig Verkehr ist, streckenweise ist die Straße wie ausgestorben, bis uns einfällt, dass man in Italien heute, am 24. April, den „Anniversario della Liberazione“, den Jahrestag  der Befreiung Italiens vom Faschismus feiert. Und wenn man weiß, dass die Toskana politisch mehr nach links tendiert als die übrigen Regionen Italiens, dann mag das ja mit ein Grund sein. Jedenfalls muss heute niemand zur Arbeit fahren, wie man sieht. Außerdem hat es in der Nacht geregnet und es regnet immer noch leicht, sodass wir vielleicht zu den wenigen Besuchern zählen, die sich nicht abhalten lassen. In den nächsten drei Tagen möchten wir die alten „Città del Tufo“, die mittelalterlichen Tuffsteinstädte Pitigliano, Sorano und Sovana in der südlichen Toskana erkunden. Das ganze Gebiet um diese Städte nennt man ja wegen seiner aufragenden Tuffsteinfelsen ganz treffend „Area del Tufo“.

   Als wir bei der Chiesa Madonna della Grazie die Rechtskurve nehmen, haben wir plötzlich Pitigliano von der Südseite in seiner ganzen Ausdehnung vor Augen, vom mächtigen Campanile überragt. Auch wenn ich die üblichen Bilder von Pitigliano kenne, mich eingelesen und „eingesehen“ habe, halte ich jetzt doch ein wenig den Atem an. Kann man da oben überhaupt wohnen?, ist unsere erste Frage. Von außen bzw. unten kommen einem fast Zweifel, ob hinter diesen mittelalterlichen, graubraunen Fassaden, denen man die Jahrhunderte wirklich anmerkt, überhaupt Leben ist. Auf senkrecht aufragenden rötlichgelben Tufffelsen steht da eine Stadt vor uns, wie wir bisher noch keine gesehen haben. Als hätten sich auf einem Baumstrunk dichtgedrängt zahllose Schwämme gebildet, so bedecken jetzt eng aneinandergedrückt und ineinander verschachtelt die Hauser von Pitigliano den Tuffsteinfelsen, aber nicht nur ein paar Häuser, nein gleich eine ganze Stadt. Wären da keine Häuser, nur der nackte Tuffstein, der aus der Erde ragt, könnte man sich gar nicht vorstellen, dass sich da oben eine Stadt erhebt. Wenn man aus den Häusern ganz am äußeren Rand des Felsens aus dem Fenster in die Tiefe schaut, muss man ja schwindelfrei sein. Einen sichereren Platz hätten die Etrusker nicht finden können. Da konnte man getrost auf die Stadtmauer verzichten. Eine solche Stadt ließ  sich im Falle drohender Gefahr gut verteidigen. Wie sollte man aus der tiefen Schlucht diese Stadt da oben einnehmen können? Obwohl wir die Toskana schon seit mehr als einem Jahrzehnt erkunden, bin ich doch erstaunt, wie vielgestaltig und voller Gegensätze sie sich immer wieder zeigt. Heute wieder ein ganz anderes, neues Gesicht, so haben wir die Toskana noch nicht erlebt. Die vertrauten und so beliebten toskanischen Motive sind verschwunden, keine Hänge mit Weinreben, keine sanften Hügel, keine Weizenfelder, sogar die Zypressen sind verschwunden. Man erkennt die Toskana kaum wieder. Auf einmal prägen hohe Felsen und tiefe Schluchten die Landschaft. Kein Blick in die Weite, der Horizont ist ganz nahe herangerückt. Die Toskana hat keine Maske aufgesetzt, nein, das hier ist eben eines ihrer vielen Gesichter, auch wenn es viele nicht kennen.

   Wir müssen mit dem Auto über einem fünfhundert Jahre alten Aquädukt eine tiefe, bewaldete Schlucht überqueren, um hinauf in die Stadt auf dem Felsen zu gelangen. Immer wieder sind  große Öffnungen in den Tufffelsen geschlagen, die mit großen, manchmal sehr sanierungsbedürftigen Holztoren verriegelt sind. Vielleicht wird der Raum dahinter als Abstellplatz oder Lagerraum genützt. Durchaus möglich, dass die kühlen ausgehöhlten Felskammern auch als Weinkeller für den bekannten Bianco di Pitigliano genützt werden, den wir in einer Bar noch genießen werden, wenn uns der „barista“ unter einem Glasdach im Freien zwei Gläser davon mit einer Selbstverständlichkeit serviert, als wäre es eine Sünde, hier oben einen anderen Wein zu trinken. Wir versündigen uns natürlich nicht. Die mehr als exponierte Lage macht den Autos den Zugang nicht ganz leicht, als würde Pitigliano sich gegen deren Ansturm zu wehren versuchen, denn Platz ist kostbar hier oben. Daran ändert auch das Hupkonzert einiger Autos nichts, die sich vor der Porta Cittadella gerade ineinander verkeilen. Wohin mit den Autos? Und an manchen schönen warmen Tagen wird man sich hier auch fragen: Wohin mit den vielen Leuten? Innen seltsamerweise wechselt dann Pitigliano sein Gesicht völlig, scheint vergessen zu haben, dass es waghalsig auf einem Felsen steht, beginnt sich mutig zu weiten, schon auf der Piazza Garibaldi, vor allem aber auf der Piazza della Repubblica. Wenn man von außen oder unten zweifeln möchte, ob der Platz hier ausreicht, dass sich Leben in solcher Fülle entfalten kann, so merkt man im Inneren gar nicht wirklich, wo man ist. Von außen würde man nicht für möglich halten, was in der Stadt dann ganz selbstverständlich scheint. Das Leben pulsiert wie auf einer Bühne.

   Pitigliano ist eine ganz bezaubernde und in gewisser Weise auch verzaubernde mittelalterliche città mit urbanem Flair, einem mondänen Hauch. Wenn man nicht gerade durch einen der vielen Bogen hinausschaut, dann ist im Inneren von Schlucht und Felsen nichts zu merken. Porta, Fortezza, Duomo, Campanile, Palazzo, Archi (Bögen), breite Straßen und enge Gassen, Brunnen, Geschäfte, Bars, Cafes, Trattorien, weite Plätze, enge Winkel, Sonnenschirme und Terrassen, Mittelalter, Renaissance, viele Leute, die hier wohnen oder als Besucher hierher kommen. Der mächtige Palazzo Orsini der gleichnamigen Adelsfamilie mit seinen eindrucksvollen Zinnen gewährt heute als Museum Einblick in die Vergangenheit. Pitigliano mag einst verschlafen gewesen sein, mittlerweile verfügt es über magnetische Anziehungskräfte, wie die überraschend vielen Menschen zeigen, die sich durch seine Straßen bewegen und seine Plätze beleben. Immer wieder, vor allem durch die Bögen in der Via Roma, bieten sich herrliche Ausblicke nach außen und respekteinflößende Blicke in die Tiefe. Pitigliano ist voller Leben, Schönheit, Charme und historischer Atmosphäre. Mehr als an anderen Orten schimmert hier die Geschichte durch, nicht nur das Mittelalter, auch die Römer und vor ihnen die Etrusker spürt man hier an allen Ecken und Enden. Pitigliano lässt die Jahrhunderte und Jahrtausende kürzer erscheinen. Die Gegenwart rückt näher an die Vergangenheit heran, ohne antiquiert zu erscheinen. Beim Schauen, Suchen und Erkunden verrinnen die Stunden wie im Fluge. Durch die langgezogene Via Zuccharelli gelangen wir ins „antico quartiere ebraico“, in das jüdische Zentrum, in dem einst Angehörige der jüdischen Bevölkerung schutzsuchend Zuflucht gefunden haben und als jüdische   Gemeinde  hier ihr Leben ohne Bedrohung entfalten konnten, zuerst integriert in die Stadt, dann doch zurückgedrängt in ein Ghetto, bis sie im 20. Jahrhundert durch Faschismus und Nationalsozialismus endgültig verjagt worden sind. Heute sind die Räumlichkeiten ein Museum und als „La Piccola Gerusalemme“ bekannt, dessen Eingang von zwei italienischen Soldaten mit Maschinenpistolen bewacht wird. In Zeiten wie diesen absolut notwendig. Die Angst vor Anschlägen ist hier durchaus berechtigt, obwohl der eine der beiden Soldaten sehr freundlich und entspannt auf meine Fragen eingeht. Die Dame an der „biglietteria“ sagt mir, dass die jüdische Gemeinde heute nur mehr aus drei Personen besteht, die sich aber nicht mehr in dieser Synagoge, sondern anderswo zu Gebet, Gottesdienst und Versammlung treffen.

   Seit einer halben Stunde zeigt sich auch die Sonne und kann ihre Strahlen auf die überraschend weitläufige Piazza delle Repubblica verteilen, ohne diese jedoch wirklich erwärmen zu können. Noch einmal genießen wir den Blick hinaus durch einen dreifachen Arco, der uns wieder erinnert, wo wir sind: auf einem Felsen über einem tiefen Abgrund. An der  nächsten Ecke hat man das schon wieder vergessen. Die Autos sollten eigentlich vor der Porta bleiben, dennoch fährt gerade ein kleiner Fiat seelenruhig über die Piazza. Immer wieder sind hier herinnen einige Autos geparkt. Es sind wohl die Autos der Anwohner. Mitten auf der Piazza hier hat sich eine Musikkapelle versammelt, die mit Marschmusik der Befreiung vom Faschismus gedenkt. Schnell bildet sich eine Menschentraube um die Musikanten. Durch die enge Via Roma gelangen wir zur Piazza Gregorio VII. mit der „Cattedrale dei Santi Pietro e Paulo“, die einer verbreiteten Tradition hier folgend den beiden Aposteln Petrus und Paulus geweiht ist, die „versteinert“ zu beiden Seiten der Fassade den Eingang flankieren. Barockisiert steht sie ganz im Gegensatz zum ansonsten mittelalterlichen Stadtbild, auch das Innere wurde im barocken Stil adaptiert. Nur der mächtige Campanile an ihrer Seite hat sich nicht der Fassade angeglichen und ist dem Jahr seiner Erbauung treu geblieben. Nicht weil wir satt an Eindrücken sind – es gäbe noch vieles aufzustöbern, zu sehen, zu erleben – , bewegen wir uns langsam wieder stadtauswärts, aber Stunde um Stunde ist vergangen und mit der Gewissheit, dass wir wieder hierherkommen werden, um das zu sehen, was uns heute noch verborgen bleiben musste, verlassen wir für heute diese Stadt auf dem Felsen. Um einem der geheimnisvollen Hohlwege, „vie cave“, von den Etruskern tief in den Tuffstein gehauenen Höhlenwege zu folgen und uns zu ihren Nekropolen führen zu lassen, werden wir einen weiteren Tag benötigen. Wir werden dabei ihr Geheimnis zwar nicht lüften, die vielen Rätsel um ihre Bedeutung nicht lösen, aber die Eindrücke wie ein Mysterium sammeln und mitnehmen. 

 

© Josef Gredler