Josef Gredler

18  Eine Kirche mit direktem Blick in den Himmel

 

   Etwas mehr als dreißig Kilometer oder eine gute halbe Autostunde südwestlich von Siena, erreichen wir an den östlichen Ausläufern der Colline Metallifere eine fruchtbare, noch weitgehend naturbelassene Talebene des Merse, saftiggrüne Wiesen geben den Ton an. Ein Wegweiser verspricht uns, ganz nahe am Ziel zu sein, nur noch vierhundert Meter bis zur Abbazia di San Galgano. Eine bequeme asphaltierte Straße würde uns direkt zur ehemaligen Einsiedelei auf den Montesiepi oben auf dem Hügel führen. Aber wir biegen rechts in eine Kastanienallee ein, an deren Ende wir vor der großen Bar das Auto stehen lassen.  Die Vielzahl leerer Stühle und Tische im Freien lässt erahnen, dass hier an schönen Tagen, aber  natürlich nicht so früh, viele Besucher erwartet werden. Aber wir sind heute noch die ersten. Ein Straßenschild lässt wissen, dass man die letzten Meter zur Kirche, die da hinten direkt vor uns steht, zu Fuß gehen muss. So nahe lässt sie die Autos nicht an sich heran und das ist gut so. Jetzt haben die Kastanien stolzen Zypressen – sie bilden so oft das Empfangsspalier in der Toskana – weichen müssen, um uns an groben, frisch gepflügten braunen Ackerschollen vorbei zur Kirche zu begleiten. Bei deren unvorbereitetem Anblick müsste man fast die Luft anhalten, weil ihr – auch von außen sichtbar – das Dach fehlt. Ein ganz seltsamer, ungewöhnlicher Anblick diese Kirche ohne Dach. Zwar haben wir um die einzigartige Besonderheit dieser berühmten und vielbesuchten gotischen Abteikirche San Galgano schon gewusst, weil wir uns ja immer eifrig lesend auf das Ziel vorbereiten, das wir ansteuern. Aber jetzt, wo sich die Kirche vor uns so ruinengleich erhebt…   

   Zwanzig, dreißig Meter vor dem Eingangsportal ist auch die asphaltierte Straße zu Ende und geht in einen schotterigen Vorplatz über. Den Hinweisschildern folgend gehen wir in gebührendem Abstand auf einem breiten Zugangsweg außen an der Längsseite der Kirche vorbei. Beidseits gibt uns eine nicht unüberwindliche Mauer zu verstehen, dass wir auf dem Weg bleiben sollen und die gepflegte Anlage dahinter geschützt werden will. Wir gelangen nicht direkt in die Kirche, sondern müssen einen kleinen Umweg über den angebauten Klostertrakt nehmen. Der Grund hierfür wird uns bald klar. „Ticketoffice“ steht da, „bigletteria“ würden vielleicht nicht alle verstehen. Schließlich befinden wir uns, unter klösterlichen Kreuzrippengewölben hindurch, in der Kirche, die sich jetzt wirklich als höchst außergewöhnlich erweist. So etwas hat man einfach noch nie gesehen. Wir stehen im siebzig Meter langen Mittelschiff und über uns nur blauer Himmel. Eine Zeit lang stehen wir still, als würden diese Mauern zu uns sprechen. Statt grünem Rasen, wie im Kirchenführer von San Galgano noch zu sehen, bedecken Schotter und Kies den Fußboden der Kirche. Wahrscheinlich hat der Rasen dem Besucheransturm nicht standgehalten. Nur an den Mauern wachsen da oder dort grüne Unkrautbüschel aus dem Boden. Die mächtigen Säulen haben ja kein Dach mehr zu tragen. Je acht von ihnen, jeweils mit Spitzbögen verbunden, trennen zu beiden Seiten das Mittelschiff von den wesentlich niedrigeren und schmäleren Seitenschiffen. Vier weitere Säulen bilden zu beiden Seiten, so gut sie es können, das Querschiff. So stehen sie alle da die vierundzwanzig Säulen, seit Jahrhunderten ihrer tragenden Rolle entledigt.

   Wir sind noch die einzigen Besucher, obwohl der ganze Komplex San Galgano deutliche Spuren zahlreicher Besucher aus aller Welt erkennen lässt. So schutzlos, wie die Kirche von innen wirkt, so einsam, fast verlassen und ausgesetzt steht sie auch mitten in der Landschaft. Es sollte ein Ort der Abgeschiedenheit werden, diesen Eindruck macht er fast tausend Jahre später immer noch. Man hört nichts und niemand, nur den Gesang der Vögel, der zu dieser noch frühen Stunde von außen durch die offenen Fenster in die Kirche mit ihrer  besonderen Akustik dringt. Aber hier herinnen hüllt sich alles in Schweigen, das nur ab und zu vom Geflatter und Gurren einiger Tauben unterbrochen wird, die nicht so früh mit uns gerechnet haben. Wir überlassen uns ganz der Stimmung dieses Raumes, um ihn einfach nur auf uns einwirken zu lassen, und genießen diese. An strahlenden Tagen wie dem heutigen inszeniert hier die Sonne ihre Licht- und Schattenspiele mit den Fensteröffnungen, Säulen und Spitzbögen unter dem offenen Dach – von ihrem Aufgang am Morgen bis zum Niedergang in den Abendstunden. Dann können – oft für ein paar Augenblicke nur – ganz wundersame Gegensätze von Licht und Schatten entstehen. Wenn nach eingebrochener Dunkelheit die Scheinwerfer vom Boden ihr Licht den Wänden entlang nach oben richten, taucht der Kontrast zum nächtlichen Himmel das Innere der Kirche in eine fast mystische Stimmung. Wenn die Sonne im Sommer genau am Zenit über dem offenen Dach steht, hebt sie den ganzen Innenraum in ein fast überirdisches Licht. Wenn bei einem heftigen Unwetter Blitz und Donner niedergehen und dunkle, wasserschwere Wolken ihre Massen über der Kirche entladen, scheint eine Apokalypse loszubrechen. In klaren Nächten steht der Sternenhimmel über der Kirche, als wollte er das fehlende Dach ersetzen, und der Mond schaut auf seiner nächtlichen Bahn der Reihe nach durch die einzelnen Öffnungen.  Auch wenn diese Kirche ihrer eigentlichen Bestimmung schon längst enthoben ist und alle liturgischen Symbole, Bilder und Gegenstände entfernt worden sind, ist dennoch eine sakral-mystische Atmosphäre zurückgeblieben. Daran können auch die Bühne und die Konzertbestuhlung nichts ändern, die wir heute vorfinden, weil übermorgen da herinnen Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ zur Aufführung gelangen. Der Blick auf den nach Osten ausgerichteten Chor mit seiner großen runden Öffnung, die einmal eine kunstvolle Rosette fasste, und die geometrisch exakt in zwei Reihen übereinander angeordneten leeren Spitzbogenfenster hat etwas Wundersames an sich. Würde man dieser Kirche ihr damals aus Geldnot und Leichtsinn verkauftes Bleidach wieder zurückgeben, wäre das überhaupt ein Segen für diese wohl ungewöhnlichste Kirche der Toskana?

   Ihre Geschichte begann vor neunhundert Jahren, als Zisterziensermönche hierher kamen und mit dem Bau einer Abtei begannen – wenige Jahre nach dem Tod und zu Ehren des Heiligen Galgano, der nur ein paar hundert Meter von hier entfernt oben auf dem Hügel Montesiepi seinem sinnentleerten Leben eine Wendung in die ganz entgegen gesetzte Richtung gegeben hatte. Die ersten Mönche legten dann die Sümpfe in der Talebene trocken, machten so die Felder fruchtbar und brachten dieses Kloster zu großer, weit ausstrahlender geistlichen Blüte. Die unsichtbaren Impulse dieses spirituellen Zentrums waren noch viel nachhaltiger und weitreichender, als es der sichtbare eindrucksvolle Sakralbau je vermocht hätte. Die Abtei kennt aber nicht nur Blütezeiten, sie hat auch Niedergang erlebt. Hungersnot und Pest dezimierten die Anzahl der Mönche, Glockenturm und Gewölbe stürzten ein, Söldnerheere machten die Gegend unsicher, die Abtei wurde vorübergehend sogar als Bauernhof verwendet, Großherzog Leopold hob 1783 unter Kaiser Joseph II. das Kloster auf, im 19. Jahrhundert erfolgte nach einer Restaurierung eine Wiedererweckung zum geistlichen Leben. Heute werden in dieser Kirche nicht mehr Gottesdienste gefeiert, sondern Konzerte und Opern aufgeführt, Events finden statt. Um den Ursprung dieser bedeutenden Abtei zu verstehen, müssen wir zu Fuß den einige hundert Meter entfernten Hügel hinaufgehen. Ein halbstündiger, zu Besinnung anregender Fußweg führt zuerst in der Ebene durch ein wild anmutendes Sonnenblumenfeld, steigt dann zwischen Büschen, Sträuchern und Bäumen auf der einen Seite und Weinreben auf der anderen an und führt alsbald zum Eremo di San Galgano auf den Hügel Montesiepi. Da heroben hat alles begonnen.

   Der Ritter Galgano Guidotti, der 1148 unweit von hier  in Chiusdino geboren worden war und einen sehr freizügigen, manche sagen unzüchtigen Lebenswandel führte, zog sich auf Geheiß des Erzengels Michael in eine Hütte auf diesem Hügel zurück, wo er als Einsiedler lebte. Hier wollte er seinem lasterhaften und gewalterfüllten Leben abschwören. Zum Zeichen dafür zog Galgano sein Schwert und stieß es, das Unmögliche versuchend, in den Felsen, der in seiner Hütte herausragte. Sein Schwert bohrte sich tatsächlich in den Stein und blieb dort stecken, sodass nur noch das Ende wie ein Kreuz herausragte. Er hatte sein Schwert in ein Kreuz gewandelt, das nun seinem Leben die Richtung wies. In dem rotondaförmigen Kirchlein fällt unser Blick gleich auf dieses Schwert in der Mitte, das seit jenen Tagen verehrt wird. Eine kleine Glaskuppe darüber und ein Eisenzaun herum sollen dieses Schwert schützen, dass ja niemand versuchen möge, es herauszuziehen. Ganz abgesehen davon, dass es vergebliche Mühe wäre, ist es gut so, dass dieses Schwert nicht mehr zu Gewalt gebraucht werden kann. Es ist zum Kreuz geworden, das von dem, der lang vor dem Heiligen an diesen kreuzförmigen Holzbalken gestorben ist, zum Zeichen alles hingebender Liebe aufgestiegen ist. Eine Legende erzählt, dass ein Wolf, ein Freund des Heiligen, einen Mann daran gehindert haben soll, das Schwert herauszuziehen. Die Kuppel darüber will mit ihren konzentrischen hell- und dunkelfarbigen Mauerringen aus Ziegelsteinen über die Begrenzung dieses Lebens hinaus in die Ewigkeit verweisen. Vierzehn schlichte kleine Holzkreuze säumen auf halber Höhe inwendig die Rotanda. Links vom Altar steht in einer kleinen Nische das Ewige Licht, Christen ein Zeichen der sakramentalen Anwesenheit Jesu in dieser Kirche. Der Ambo hat die Form des Schwertes bekommen, das im Felsen steckt. Galgano Guidotti, was sterblich an ihm war, wurde hier begraben. Wenige Jahre nach seinem Tod wurde er heilig gesprochen, der Ort seiner Wandlung zu einer viel besuchten Wallfahrtsstätte, die wir jetzt wieder talwärts verlassen.

   Unser Blick richtet sich wieder nach unten zur Abteikirche, deren Grundriss – ein lateinisches Kreuz – man von hier oben besonders gut erkennen kann, und natürlich das fehlende Dach, ursprünglich ein unverständlicher Leichtsinn mit zerstörerischen Folgen, heute von großer Anziehungskraft. Würde diese Kirche bzw. Ruine, wenn sie im Besitz ihres Daches noch in Amt und Würden eines geweihten Gotteshauses stünde, so viele Besucher anlocken? Jedenfalls hat man sich vor rund fünfzig Jahren entschlossen, fehlende Mauern wieder aufzubauen, aber nicht das fehlende Dach zu ergänzen. Ein Zisterziensermönch hauchte der Klosterruine wieder neues Leben ein. San Galgano hat eine außergewöhnliche Anziehungskraft, unten in der Talebene mögen mehr die profanen Kräfte wirken, hier oben auf dem Hügel sind wahrscheinlich die spirituellen stärker. Am Weg hinunter kommen wir an einer kleinen „Winebar“ vorbei – nicht gerade eine stimmige Beschilderung für eine italienische Weinbar in einem kleinen toskanischen Wäldchen, sondern ein Tribut an das internationale Publikum, das man hier erwartet. Dort kehren wir Schutz suchend ein, nachdem es plötzlich zu regnen begonnen hat, als hätte der Himmel über San Galgano alle Schleusen geöffnet. An einen der wenigen Tische setzen wir uns und suchen nach Worten für das, was wir „unten“ und „oben“ gerade erlebt haben.

 

© Josef Gredler