Josef Gredler

17  Toskana wie aus dem Kalender

 

   Von der Toskana haben viele ihrer Besucher oder Gäste ihr ganz bestimmtes und persönliches Bild, geprägt mit den Zügen jener Umgebung, in der sie sich bevorzugt aufhalten und die ihnen daher vertraut ist. Jene, die der Toskana fern bleiben, werden mit Bildern von ihr überschwemmt, die manchmal zu Klischees entarten – auf Postkarten, in Kalendern, in Büchern, im Internet… Wer sich mit der Toskana wirklich anfreundet, sie persönlich kennen und in der Folge meist auch lieben lernt, weiß von ihren vielen Gesichtern, die so verschieden sind, dass man kaum glauben kann, dass es sich dabei immer wirklich um ein und dieselbe Toskana handelt. „Die Toskana“ gibt es eigentlich gar nicht, aber ein Gesicht oder Bild von ihr geht um die Welt: ein sanfter Hügel mit goldgelben Weizenfeldern bedeckt, zwischen denen eine einsame Schotterstraße zypressengesäumt in weiten Windungen nach oben führt und dort am höchsten Punkt in ein vierkantiges Gehöft in typisch toskanischem Stil  mündet. Zumindest auf dem Bild als Ziel der Ziele erscheinend, real oder imaginär. Möglicherweise sorgen noch Mohnblumen für ein paar rote Farbtupfer oder Sonnenblumen überbieten die Weizenfelder mit ihrem satten Gelb. Für viele ist das dann das Gesicht der Toskana, zeitlebens oder so lange, bis sie dann irgendwann doch ein ganz anderes Gesicht von ihr kennen lernen oder durch neugieriges Erkunden und Umherschweifen ihre vielen verschiedenen Gesichter entdecken. Dabei gibt es dieses fast kitschig anmutende Kalendergesicht der Toskana tatsächlich.

   Wenn man sich südöstlich von Siena mit dem Fotoapparat auf Motivsuche begibt, wird man schnell fündig und könnte selber ohne große Mühe einen ganzen Kalender mit derlei Toskanamotiven füllen, von denen kein einziges eine unehrliche Bildmontage wäre. Jedes Bild ist echt, so schön, dass es fast schwer fällt, es nicht für ein manipuliert oder retuschiert zu halten. Nachdem wir im Straßengewirr die Nordumfahrung Sienas  vergeblich einmal im Kreis gefahren sind, gelingt es uns doch, auf die SP 338 aufzufahren und Richtung Südosten Asciano anzusteuern. Die Landschaft  beginnt sich allmählich zu öffnen, immer weniger Autos kommen uns entgegen. Morgen beginnt die Karwoche, da hätten wir eigentlich mehr Verkehr erwartet. Abschnittweise liegt sogar ein Hauch von Einsamkeit auf dieser Route, die wie viele andere in der Toskana stetig hin und her und auf und ab führt. Keinerlei Bäume verstellen uns den ungewohnt weiten Ausblick. Nach jeder Biegung, die die Straße nimmt, möchte man am liebsten anhalten, um seine Fotos für den Kalender zu schießen. Manche lassen den Fotoapparat zu Hause, haben stattdessen Pinsel und Staffelei mitgenommen, sitzen irgendwo abseits der Straße und malen mit mehr oder weniger künstlerischer Begabung, aber großer Hingebung ihr Bild von der Toskana. Ich habe den Fotoapparat und mangels malerischer Begabung auch Pinsel und Farben zu Hause lassen, aber dafür meinen Schreibblock mitgenommen, um mit Worten eine Skizze von dem anzufertigen, was ich schaue, höre, fühle, und so die Eindrücke dieser Naturlandschaft auf mich mit Worten abzubilden. Heute suchen meine Frau und ich keine Stadt, keine Kirche, kein Castello, kein bestimmtes Ziel. Heute ist der Weg das Ziel, der Weg durch eine Landschaft, deren Fotos man geneigt ist, für geschönte Retuschierungen zu halten.

   Diese Landschaft, die ich heute mit meinem Schreibblock fast ziellos durchstreife, nennt man die „Crete“, genauer gesagt die „Crete Senesi“, ein Stück Toskana, in der diese Züge annimmt, als würde sie einer Verwandlungskünstlerin gleich sich absichtlich mit Formationen verkleiden, um ihre magischen Anziehungskräfte auf ihre Besucher loszulassen. Weinreben und Eichenwälder sind verschwunden, riesige Schafweiden breiten sich aus. Es ist Mitte April, die Provinzstraße schlängelt sich durch die sanfte hügelige Landschaft, die sich in satten Grüntönen voller Lebenskraft vor uns ausbreitet, immer wieder unterbrochen von graubraunen, um diese Zeit noch nackten Ackerflächen. Gelegentlich tauchen Olivenhaine oder auch nur einzelne Olivenbäume, auch ein paar Pinien oder Zypressen auf.  Dazwischen immer wieder Tümpel, Teiche oder ganz kleine Seen, die vielleicht als Wasserspeicher dienen.  Das satte Grün wird zur Horizontlinie. Jetzt zieht ein Hügel an uns vorbei, an dessen höchster Erhebung tatsächlich dieses typische aus Steinen errichtete Haus einsam in der Landschaft steht, zu dem sich eine schotterige Straße empor windet, zu beiden Seiten wirklich von Zypressen gesäumt, als hätten sich diese auf höheren Befehl so gleichmäßig in Reih und Glied aufgestellt, um dem Landhaus an deren Ende den gebührenden Respekt zu erweisen. Ich könnte schwören, genau dieses Bild, diese Straße mit den schlanken Zypressen beidseits und dieses einsame Gehöft oben auf dem Hügel in einem der zahlreichen Kalender schon gesehen zu haben. Der ganze Kalender könnte hier entstanden sein, denn ein Postkartenmotiv löst das andere ab.

   Mitten in der malerischen Landschaft tun sich auf einmal riesige Furchen und Gräben auf, als sei die fruchtbare Erde darin versunken und von wüstenähnlichem Sand und Schotter zugedeckt worden. Der helle Schotter lässt die Einbrüche wie frische Wunden in der Landschaft aussehen. Büsche und Sträucher geben diesen Wunden dann wieder ein vernarbtes Gesicht. Diese Calanchi, so nennt sie der Bauer, den ich gerade mit ein paar Fragen zu dieser mir seltsamen Naturerscheinung aufhalte, seien durch Verwitterung entstanden. Er hätte auch sagen können, ein überdimensionales Monster von einem Dinosaurier hat mit seinen Riesenklauen diese Abdrücke hinterlassen. Dann sehe ich fast weiße, wenige Meter hohe Hügel, in denen diese außerirdischen Megadinos ihre Kratzspuren hinterlassen haben. Der Bauer, er scheint kein gewöhnlicher Bauer zu sein, nennt sie Biancane und weiß, dass sie durch Erosion entstanden sind. Wie sollte ich ihm nicht glauben? Die fruchtbare Erde wird immer wieder von solchen Formationen unterbrochen, die wie von einem anderen Stern scheinen. Sie passen überhaupt nicht hierher, aber sie sind da. Diese seltsamen Phänomene sind keine Illusion, sie wiederholen sich immer wieder und wenn man ihren Abgrund aufsucht, bestätigen sie, keine Täuschung zu sein. Zuerst die Etrusker und später die Römer haben durch Abholzung tief in die Landschaft eingegriffen und wohl auch diese Formationen mit verursacht. Einstmals soll hier ein Meer gewesen sein und im Spätsommer erwecken die Kornfelder tatsächlich den Eindruck, als seien sie zu Festland geronnene Wogen. Wenn der Wind über das Kornfeld streift, wiegen sich die Ähren wie sanfte Wogen und das Kornfeld wird zur goldgelben Meeresoberfläche im Wellengang.

   Nach fast zwei Stunden mit vielen neugierigen Nachforschungen unterbricht Asciano diese verträumte Bilderbuchfahrt. Wir stellen unser Auto am großen Parkplatz am Ortseingang ab. Mehr als ein kurzes Verweilen ist nicht möglich. Das landschaftliche Bilderbuch, das wir heute aufgeschlagen haben, hat noch viele Seiten, die wir durchblättern wollen. So muss sich der sehenswerte Renaissancebrunnen am Ortseingang mit einem flüchtigen Blick begnügen. Etwas eilig fegen wir durch den Corso Matteotti, im Kopf immer noch die vielen Postkartenmotive. An dieser Stelle müssen wir innehalten und das Bilderbuch für eine halbe Stunde schließen, damit wir wieder einen freien Kopf für die Fortsetzung haben. Außerdem meldet sich unser Magen, der heute noch kein Frühstück bekommen hat, obwohl die Uhr schon gegen Mittag zeigt. Da kommt uns die kleine Bäckerei auf der zentralen Piazza Garibaldi gerade recht, eine von unzähligen solcher „Garibaldis“ in der Toskana. Ein paar knusprige Brötchen, die wir mit „prosciutto crudo“ belegen und dazu etwas von dem Pecorino aus der Bar daneben – Asciano ist ja das Zentrum der Schafzucht und des Pecorino – sind heute unser verspätetes Frühstück oder verfrühtes Mittagessen auf einer Bank in der Sonne. Eine Gruppe von Radfahrern aus dem Ruhrgebiet macht auch hier ihre Mittagspause. Wir besorgen uns in der Bar noch eine Flasche Mineralwasser, dann öffnen wir wieder das Bilderbuch der Crete, um darin weiterzublättern. Am Abend möchten wir unser Domizil an Fuß des Monte Amiata beziehen.

   Wir biegen in die SP 451 ein und fahren gen Süden in Richtung der Abbazzia Monte Oliveto Maggiore. Die Bilderbuchlandschaft findet auf dieser Route ihre Fortsetzung. Es sind nicht immer neue, andere Bilder, denn die Crete streckt sich mit ihren landschaftlichen Merkmalen fort bis in die Nähe des Monte Amiata. Eigentlich träumen wir weiter, allerdings auf eine Weise, die das sichere Chauffieren unseres Autos nicht einschränkt. Außerdem müssen wir immer wieder anhalten, aussteigen und zu Fuß unserer Neugier folgen. Diese Bilderbuchreise erfordert auch gutes Schuhwerk. Ehe wir Monte Oliveto Maggiore erreichen, tut sich zur Linken noch einmal ein  riesiger Grabenabbruch auf, den wir uns genauer anschauen müssen. Man sieht deutlich, dass es sich tatsächlich um einen Einbruch handelt, man kann richtig eine Abbruchkante erkennen, die sich dann in einem steilen, vegetationslosen Abhang fortsetzt. Paradies und Wüste reichen einander die Hände. Wir sind nicht einzigen, die darüber staunen. Die Landschaft der Crete mit ihrem manchmal etwas außerirdisch anmutenden Charakter zieht Menschen aus aller Welt an und scheint inspirierende Kräfte zu haben. Auf einer Anhöhe steht die mächtige, aus roten Backsteinen errichtete Abbazzia Monte Oliveto Maggiore, einer Festung gleich, umgeben von Wiesen und Feldern. Es ist eine Abtei der Olivetaner, eines Zweigordens der Benediktiner. Es wäre uns unmöglich, hier einfach vorbeizufahren, wir können es nur deshalb, weil wir dieser Abtei schon einmal die Aufmerksamkeit eines ganzen Tages geschenkt haben. Im Jahre 1313 hat sich ein reicher Adeliger aus Siena mit zwei Freunden von allem Weltlichen zurückgezogen, um hier nach einer strengen Auslegung der Regel des Heiligen Benedikt ein asketisch erfülltes Leben zu führen. Man kann nahezu die ganze Klosteranlage besichtigen und sollte sich besonders für den Kreuzgang genug Zeit nehmen, der in einem herrlichen Freskenzyklus von den Renaissancemalern Luca Signorelli und Sodoma Szenen aus der Vita des Heiligen Benedikt zeigt. So setzen wir stattdessen unsere Fahrt und unsere neugierigen Erkundungen fort, bis wir am Abend dann in Seggiano unser Appartement inmitten eines großen Olivenhains am Fuße des Monte Amiata beziehen.

 

© Josef Gredler