Zacharias auf dem Weg in den Tempel
Nachdenklich macht sich Zacharias auf den Weg in den Tempel. Seit König David ist sein Familiengeschlecht eines der vierundzwanzig, denen der priesterliche Dienst im Tempel übertragen ist. In dieser Woche ist seine Priesterklasse an der Reihe, den Gottesdienst zu vollziehen. Wie in der Priesterordnung vorgesehen, ist früh am Morgen das Los geworfen worden, wem aus seiner Priesterklasse die Aufgabe zufällt, im Tempel des Herrn das Rauchopfer darzubringen. Das Los ist auf ihn gefallen. Zachäus weiß, dass es aber nicht das Los war, das ihn erwählt hat, sondern der Herr hat es so bestimmt. Eigentlich würde Zacharias jetzt ganz in seiner Aufgabe versinken, aber heute schweifen seine Gedanken immer wieder ab vom Herrn und vom Tempel, er muss fortwährend an Elisabeth denken, seine Frau.
Gestern haben sie lange, bis spät in die Nacht hinein miteinander geredet. Elisabeth hat ihm wieder einmal ihr schweres Herz ausgeschüttet, traurig, dass sie ihrem Mann kein Kind hat schenken können. Und jetzt ist es zu spät, die unfruchtbare Elisabeth ist auch zu alt, um zu empfangen und zu gebären. Kinderlos zu bleiben ist eine harte Strafe und sie haben beide gemeinsam lange überlegt, wofür diese Strafe sein könnte. Sie wissen es nicht. Sie leben doch beide so, wie es in den Augen Gottes gerecht sein muss. Sie haben doch immer an Gottes Weisungen festgehalten, mehr noch als sie aneinander festhalten. Sie leben miteinander ganz für den Herrn. Wo könnten sie versagt haben, dass Gott der Herr ihnen ein Kind versagt und Elisabeth solcher Schande preisgibt? Manchmal kann Elisabeth die Blicke der Leute nicht mehr ertragen und bleibt lieber zu Hause. Sie schämt sich, sie fühlt sich bloßgestellt. Früher haben sie, Elisabeth und er, Gott bestürmt und oft bis spät in die Nacht hinein gemeinsam um ein Kind gebetet. Wie oft hat er, Zacharias, im Tempel vor dem Rauchopferaltar den Herrn angefleht, den Schoß seiner Frau zu segnen. Manchmal fangen Elisabeth und er an zu zweifeln, ob sie wohl wirklich gerecht leben? Jetzt ist Elisabeth zu alt und ihre Hoffnung auf ein Kind erloschen. Sie beide haben längst aufgehört, Gott jeden Tag um einen Sohn anzuflehen, und haben sich in ihr schweres Los gefügt. Wie einen großen Schmerz, eine schwere Last tragen sie beide diese Strafe mit sich, jeden Tag.
Das alles geht Zacharias durch den Kopf, als er sich auf den Weg macht in den Tempel mit ihrer beider Last. Vor Jahren, als er noch einen Sohn hat erhoffen können, hätte ihn ehrfürchtige Freude auf diesem Weg begleitet. Aber heute sind seine Schritte schwer, auch seine Gedanken. Er sieht die vielen Leute im Vorhof gar nicht, die gekommen sind, nach dem Rauchopfer den priesterlichen Segen von ihm zu empfangen. Sie müssen draußen warten, nur er darf hinein ins Allerheiligste. Er öffnet das schwere Tor und ist jetzt ganz allein. Er bereitet alles vor, wie er das immer getan hat, und bringt dann das vorgeschriebene Rauchopfer dar. Da steht plötzlich auf der rechten Seite des Rauchopferaltars ein Engel des Herrn. Zacharias erschrickt bis ins Innerste. „Fürchte dich nicht“, sagt der Engel zu ihm, „Gott hat euer Gebet erhört, deine Frau Elisabeth wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Johannes geben. Er wird groß sein vor dem Herrn und viele Israeliten zum Herrn bekehren. Er wird dem Herrn mit dem Geist und der Kraft des Elija vorangehen und das Volk für den Herrn bereit machen.“
Zacharias hört zwar, was der Engel zu ihm sagt, aber er kann seinen Worten nicht glauben. Weiß dieser Engel Gottes denn nicht, dass Elisabeth unfruchtbar und jetzt auch noch zu alt ist? Wie soll sie da noch einen Sohn gebären? Auch er ist schon ein betagter Mann. Zacharias kann das alles nicht fassen, nicht glauben. Der Engel nennt ihm sogar seinen Namen, „ich bin Gabriel, Gott schickt mich zu dir, um dir das zu sagen“ – Zacharias versteht noch immer nicht –, „aber weil du meinen Worten nicht glaubst, sollst du stumm bleiben und nicht reden können, bis all dies eintrifft.“ Die Leute draußen im Vorhof werden schon ungeduldig. Wo bleibt er denn so lange? Und als Zacharias endlich herauskommt und ihnen wie üblich den priesterlichen Segen erteilen möchte, kann er nicht mehr sprechen, er bleibt stumm, wie der Engel gesagt hat, und kann sich nur noch mit den Händen verständigen.
Als die Tage des Tempeldienstes vorüber sind, kehrt Zacharias wieder nach Hause zurück. Und tatsächlich, seine Frau Elisabeth, unfruchtbar und überdies schon zu alt, empfängt einen Sohn. Unfassbares ist geschehen, das alles Begreifen von Zacharias und Elisabeth übersteigt.
© Josef Gredler