Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor
„Es ist ein Ros entsprungen“, so singen wir in den Tagen der Weihnacht, wenn wir die Geburt Jesu feiern. Schon die Melodie dieses vertrauten Weihnachtsliedes und über vierhundert Jahre alten Kirchenliedes geht zu Herzen und versetzt in weihnachtliche Stimmung. Der Text ist nur den regelmäßigen Kirchenbesuchern bekannt, ausgenommen die erste Zeile, zu der sich der unbekannte Textdichter vom Propheten Jesaja hat inspirieren lassen. Da heißt es in Jes 11,1 „Doch aus dem Baumstumpf Isais (= Jesse) wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.“ Jesaja, großer Prophet in Israel im 8. Jahrhundert vor Christus, ist ganz durchdrungen von dieser Vorstellung, diesem Bild, er ist – im richtigen Sinn – ganze besessen davon und wird damit zum großen Adventpropheten, zum Verkünder von Heil und Gnade. Wir können gar nicht im biblischen Sinne Advent feiern, ohne Jesaja zu Wort kommen zu lassen. Auch Johannes der Täufer, der große adventliche Wegbereiter, nahm seine Worte in den Mund. In einer Zeit, in der das gespaltene Reich Davids dauerhaft bedroht war von den feindlichen Mächten Assur und Babylon, wagte Jesaja es, wider alle Vernunft „ein Lied anzustimmen“, eine Botschaft zu verkünden, die sich nach menschlichem Ermessen nicht bewahrheiten kann.
Und tatsächlich wurden 722 v. Chr. das Nordreich und 586 v. Chr. das Südreich besiegt und unterworfen und ihre Oberschicht wurde nach Assur und Babylon verschleppt. Das war der Untergang der beiden Nachfolgereiche des einstmals davidischen Großreiches. In diese Situation der Zerstörung, Verschleppung und Gefangenschaft, des Untergangs und des Endes verheißen Jesajas Worte entgegen jeder menschlichen Vernunft einen neuen Anfang, ein neues Aufblühen. Sie verheißen einen Frieden, der sich aus den realen Umständen nicht erklären, nicht erwarten lässt. Und er tut dies im wahrsten Sinn des Wortes in schier unglaublichen Bildern, als könne er seine Phantasie in leidenschaftlicher Gewissheit der Verheißung nicht mehr im Zaum halten: Der Wolf wohnt beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein, Kalb und Löwe weiden zusammen, Kuh und Bärin freunden sich an, ein kleines Kind kann seine Hand in das Schlupfloch der Natter stecken und es passiert ihm nichts. Keine tauglichen Vorstellungen für gesunden Menschenverstand. Ein Baumstumpf, eigentlich zu nichts mehr nütze, tot, wird zum unglaublichen Neubeginn. Der Stumpf treibt aus, wider alles Erwarten, bringt ein Reis, einen neuen Trieb hervor, der Frucht bringt. Aus Untergang schafft Gott etwas ganz Neues, aus dem Ende wird ein neuer Anfang, aus dem Wurzelstumpf wächst wider alles Erwarten eine neue Frucht.
Carlo Carretto, 1988 verstorbener Mystiker und Schriftsteller der Kleinen Brüder Charles de Foucaulds, nennt Gott zweitausendsiebenhundert Jahre nach Jesaja den Gott des Unmöglichen und erzählt dazu eine berührende Erfahrung und Begebenheit, man könnte sie auch Wunder nennen. Jesaja lässt sich von den widrigsten Umständen nicht abhalten von solch wundersamen Verheißungen des schier Unmöglichen. Der Geist des Herrn hat sich niedergelassen auf diesem Spross, so seine Begründung und Erklärung für das Unerklärbare. Wo nach menschlichem Ermessen alles zu Ende ist, setzt Gott einen neuen Anfang. Einen ganz neuen Anfang hat Gott mit dem Menschen gewagt, als er seinen Sohn in die Welt sandte, um sie aus ihrer Verirrung und Verlorenheit wieder zurückzuführen in eine Dynamik des Heils.
„Das Volk, das im Dunkeln lebt, sieht ein helles Licht.“ Ein Licht wird aufstrahlen über denen, die (noch) im Land der Finsternis wohnen. Und die Begründung ist kaum zu glauben: „Denn uns ist ein Kind geboren…“ So hören wir es dann in der Weihnachtsmette zur Mitternacht, wenn Jesajas verheißende Worte wie große Scheinwerfer des Heils auf ein Kind namens Jesus gerichtet werden. Ein Kind, hilflos und wehrlos, soll die Mächte der Gewalt und Finsternis aufhalten und sogar den Tod überwinden. „Gesunder Menschenverstand“ hält das für unmöglich. Die Geburt eines Kindes wird der große Neuanfang Gottes mit den Menschen. Mit der Geburt dieses Kindes verbindet sich eine Hoffnung, wie sie noch nie dagewesen ist. Ein Kind wird zum großen Friedenslicht, zum Licht der Welt. Dieses Kind wird das Joch und das drückende Tragholz auf den Schultern versklavter und gefangener menschlicher Kreaturen zum Zerbrechen bringen, der gnadenlose Stock der Treiber wird nicht mehr sein – versprechen Jesajas Worte. Die Hoffnungen, die Jesaja geweckt hat, sind in der Geburt des Kindes von Betlehem erfüllt.
Wenn wir einander frohe Weihnachten wünschen, dann soll das doch nur so zu verstehen sein, dass wir uns auf diesen Neuanfang Gottes mit uns Menschen einlassen, weil die Verheißungen dieses Kindes uns, unser Leben, unsere Welt überstrahlen. Alle Nacht und Finsternis hat ein Ablaufdatum, weil der Friede und das Licht, die durch dieses Kind in die Welt gekommen sind, zum Omega der Evolution geworden sind.
© Josef Gredler