42  Streifzüge am Fuße der Apuanischen Alpen

 

   Von Pisa kommend fahren wir durch die mehrere Kilometer lange, schnurgerade Viale dei Tigli. Es sind gewiss mehrere hundert ausgewachsene Linden, die hier Spalier stehen, ehe man den Canale Burlamacca überquert und in die Strandpromenade des mondänen Viareggio einfährt mit seinen klassizistischen Fassaden und Jugendstilbauten. Aber so weit wollen wir gar nicht, wir suchen nur unser Domizil, einen hölzernen Bungalow im Campeggio Paradiso, von dem aus wir eine Woche lang an den Apuanischen Alpen entlang streunen möchten. Nicht die Riviera della Versilia mit ihren kilometerlangen Sandstränden hat uns hierhergelockt, sondern die Dörfer und Städte, die sich in sicherer Entfernung vom Strandtourismus am Fuße der Apuanischen Alpen ausgebreitet haben. Eine theatralische Kulisse, als wäre ein Bühnenbildner am Werk gewesen – dreißig, vierzig Kilometer nur Marina, Lido, Sand und Meer und gleich dahinter erheben sich malerisch die Apuanischen Alpen, deren höchste Erhebungen fast zweitausend Meter hinunterschauen auf Zigtausende von Sonnenschirmen, die in leuchtend bunten Farben die Sandstrände bedecken. Viele von denen, die unter den Sonnenschirmen liegen oder die Uferpromenaden entlang strömen, vor den Straßencafés und in den Restaurants sitzen, haben meist keine oder nur wenig Ahnung von diesem schmalen Landstreifen zwischen dem Meer und den apuanischen Höhen. Noch gehören wir auch zu diesen Ahnungslosen, aber das soll sich ab morgen ändern. Wir haben diesen kleinen hölzernen Bungalow und die entspannte Atmosphäre rundherum einem Hotel in Viareggio vorgezogen. Von hier lassen sich Ausflüge herrlich planen, am Abend auf der Terrasse alle Karten durchsuchen und Bücher durchstöbern, um dann am nächsten Morgen auszuschwirren.

   Nirgendwo ist die Toskana so voller Gegensätze wie hier, nirgendwo rückt eine fast zweitausend Meter hohe Gebirgskette so nahe ans Meer wie hier, nirgendwo sind kultivierte und ganz naturbelassene Strände einander so nahe wie in der Viale dei Tigli, die uns täglich kommen und gehen sieht. Wenn wir, von Norden oder Süden kommend, morgens und abends in diese Lindenallee einbiegen, dann trennt uns vom Meer nur eine „pineta“, ein sieben, acht Kilometer langer und vielleicht eineinhalb Kilometer breiter Piniengürtel – zehn Quadratkilometer wilde Toskana. So führt unser erster Weg nicht, wie geplant, gleich in die Berge oder in deren Abhänge, sondern ans Meer. Dazu müssen wir einen der Verbindungswege benützen, die diese wilde Waldlandschaft durchqueren, um einen Weg zum Meer zu bahnen, vorbei an hohen Stämmen und dichtem Unterholz. Immer wieder öffnen sich morastige Mulden und begleiten uns mit Regenwasser gefüllte Gräben. Das muss doch ein Eldorado für Wildschweine sein. Es hat in den letzten Wochen viel geregnet. Auch in der Längsrichtung durchziehen Pfade diesen Pinienwald, der Viareggio und Torre del Lago Puccini verbindet, nicht nur für Wildschweine, auch für Jogger und Radfahrer ein Paradies. Wir folgen dem erstbesten Richtung Torre del Lago und genießen einfach die tiefe Stille. Wir sind schweigend schon eine halbe Stunde unterwegs, als wir plötzlich innehalten. In noch sicherer Entfernung steht ein Wildschwein mitten im Weg. Scheu, wie Wildschweine sind, wird es sicher Platz machen, tut es aber nicht. Als plötzlich zwei Frischlinge vor uns im Eiltempo den Waldweg überqueren und auf der anderen Seite im Gebüsch verschwinden, wissen wir warum. Unerfahren in der Begegnung mit „cinghiali“ ziehen wir es vor umzukehren, um dann den Weg zur „spiaggia“, zum Strand einzuschlagen. Der Duft der Pinien, der uns begleitet, wird immer wieder unterbrochent vom Geruch nach durchtränkter Walderde. Die wohltuende Stille wird nur von lästigen Mücken gestört, die sich in der aufsteigenden feuchten Luft zu ganzen Scharen versammeln. Auf einmal weitet sich der Weg zur einer großen Lichtung. Die schon tief stehende Sonne schafft es gerade noch, diese mit ihren Strahlen zu erreichen. Schließlich werden die hohen Pinien von dichter Macchia abgelöst, die sich dann zum Meer hin in vereinzelte Büsche und Sträucher auflöst. Der Sandboden ist tief, als würden wir durch Schnee stapfen. Die Wacholdersträucher umgeben sich mit ihrem harzigen Duft. Mir ganz unbekannte Blumen, manche höher gewachsen als die Sträucher der Macchia, verteilen ihr kräftiges Lila, Gelb und Rosa zwischen den Sträuchern.

   Der Strand hat beim ersten Anblick fast etwas Gespenstisches –  angeschwemmte Hölzer liegen wie Skelettteile über den ganzen Strand verstreut, soweit das Auge reicht. Bizarr ragen unzählige gebleichte Äste und Stämme aus dem Sand, von Strandbesuchern aufgerichtet, damit sie dort ihre Badeutensilien aufhängen oder Beschattungen errichten können, denn es ist nichts da außer Sand und das, was das Meer angeschwemmt hat. Leute aus Viareggio und Torre del Lago Puccini und Gäste aus den Campingplätzen hinter der „pineta“ kommen gerne hierher, sie lieben diese naturbelassenen, wilden Strandabschnitte, die man an der toskanischen Küste immer wieder findet. Die Wildheit scheint sie anzuziehen, ein besonderes Gefühl der Freiheit zu geben und die Elemente unmittelbarer spüren zu lassen. Und tatsächlich haben auch mich diese nicht von Menschenhand kultivierten Küstenabschnitte in der Toskana am meisten beeindruckt – wenn ich an den Parco Naturale della Maremma denke, an die breite Pineta bei Cecina Mare, an den Parco di San Rossore vor den Toren Pisas. Es ist schon früher Abend geworden, Wolken sind aufgezogen und lassen die tiefstehende Sonne nicht mehr ungehindert die Küste bescheinen. Immer öfter muss sie hinter den Wolken bleiben, die sie von hinten zum Leuchten bringt, sodass sie sich in der dunkelnden Meeresoberfläche spiegeln wie ein bis zum Horizont leuchtendes Band. Von dort weht uns eine leichte Brise entgegen. Eine Stimmung zieht auf, die uns auf einem dieser nackten, gebleichten Baumstämme niedersetzen heißt, um nichts anderes zu tun als dasitzen, schauen, staunen, erleben. Inzwischen sind wir ganz allein hier und wir können uns kaum lösen von dieser mystischen Stimmung. Hinter uns die Silhouette der Apuanischen Alpen im schon fahlen Licht der anbrechenden Nacht.

   Wir kennen den Lido di Camaiore, der bei allem Reiz einen doch etwas künstlichen Eindruck auf uns macht. Heute früh suchen wir das „eigentliche“ Camaiore, nur wenige Kilometer dahinter. Im Gewirr der vielen Wegweiser macht es uns einige Mühe, den richtigen zu folgen. Schließlich stehen wir mit dem Auto doch in der nüchternen Piazza 29 Maggio von Camaiore, finden um diese Zeit noch eine Parklücke und machen uns dann zu Fuß auf den Weg. Land und Leute kann man nur zu Fuß kennenlernen, man muss den Boden unter den Füßen spüren und in Gesichter schauen. Wenn man Camaiore, nicht den Lido, sondern das „richtige“ Camaiore meint, dann muss man durch die lange, gerade Via Vittorio Emanuele gehen. Der Reiseführer nennt Camaiore ein ruhiges Städtchen. Wir können ihm nur bedingt zustimmen, denn hier in der Via Vittorio Emanuele ist es alles eher als ruhig, da herrscht ein reges Treiben, als wäre ganz Camaiore auf den Beinen. Wenn der Vergleich mit dem menschlichen Körper erlaubt ist, dann ist dieser „corso“ die Aorta dieses Städtchens, gut einen halben Kilometer lang. Die Menschen strömen durch diese Straße wie das Blut durch den menschlichen Körper. Hier sind Läden, Geschäfte, Cafès, Bars, Kirchen – alles, was man zum Leben braucht – wie auf einer langen Schnur aufgefädelt, aber gottlob kein Supermarkt, er würde die emsige Beschaulichkeit nur stören. Hier ist das Leben, hier ist Camaiore. 32.000 Einwohner soll es haben, nicht zu glauben. Der Reiseführer meint aber die ganze „commune di Camaiore“, die politische Verwaltungseinheit sozusagen. Aber dieses Camaiore hier vor unseren Augen hat vielleicht dreitausend oder noch weniger. Die Leute scheinen einander zu kennen. Ein lautes, manchmal überschwengliches Grüßen und Plaudern erfüllt die enge Straße. Auf den Tischen vor der Cafeteria-Pasticceria, wo wir gerade zum Frühstück sitzen, unterhält man sich über die Tische hinweg, als wäre man daheim. Man grüßt laut über die Straße, redet von unten hinauf zum ersten Stock und von diesem hinunter. Die Via Vitt. Emanuele scheint wie ein riesig langgezogenes, liebevoll gepflegtes, freundliches Wohnzimmer, in dessen Mitte sich eine Querstraße zur Piazza San Bernardino da Siena öffnet, damit Platz ist für den Dom, für die Chiesa Santa Maria Assunta. Die Uhr des „campanile“ zeigt, dass es bald Neun ist. Ein heimeliges Städtchen, eine heimelige Straße. Hier breitet sich jene Stimmung über diesen „corso della vita toscana“, die wir so lieben, für die wir immer wieder in die Toskana fahren. Fünf Bauarbeiter machen gerade Pause und gehen ins Cafè „Il Rivellino“ am Ende der langen Straße, schon beginnt eine lautstarke, aber ganz amikale Unterhaltung, an der sich auch gleich die charmante Besitzerin des Cafés selber rege beteiligt. Jeder trinkt seinen Espresso oder…, dann müssen sie wieder an die Arbeit. Beim Hinausgehen grüßen sie auch mich, als wäre ich einer, den sie kennen. Auf der anderen Straßenseite steht die Tür zu einer kleinen Kirche offen. Ein älterer Herr und seine Frau sind darin mit Hingebung dabei, den Altarraum zu schmücken. Voll Stolz bestätigt er mir auf meine Frage, dass er der Küster hier ist, „il sacristano“. Man spürt, dass den beiden diese Kirche ein Herzensanliegen und ihre Betreuung zur Lebensaufgabe geworden ist. Es tut den beiden spürbar gut, dass ihnen Aufmerksamkeit geschenkt wird für ihr stilles und selbstloses Tun. Der „sacristano“ gibt uns noch die Hand und wünscht uns einen schönen Urlaub und freut sich, dass wir in seine Kirche eingekehrt sind. Wir schlendern nun die lange Via Vitt. Emanuele wieder zurück. Hier deutet nichts darauf hin, dass es nur wenige Kilometer bis zum Lido sind, einer ganz anderen Welt. Hinter diesem Talkessel von Camaiore ziehen sich schützend die sattgrünen Abhänge der Alpi Apuane hinauf auf über tausend Meter. Nächste Woche wäre in der romanischen Klosterkirche der Badia di San Pietro, am Rande der Stadt, ein Orgelkonzert.

   Der Weg nach Pietrasanta versteht sich laut Straßenkarte von selbst. Tatsächlich kann man aber nicht einfach „weiterfahren“, man fährt viel mehr von Kreisverkehr zu Kreisverkehr und muss jedes Mal sehr aufpassen, die richtige Ausfahrt zu finden. Die Autobahn wäre der schnellste Weg für unsere Weiterfahrt nach Norden, aber man weiß dann nie, wo man wirklich ist. Eine andere, weniger schnelle, aber aussichtsreichere Möglichkeit ist die Via Aurelia. Am eindrucksvollsten jedoch sind die kleinen, schmalen Straßen, die sich am Fuße der Apuanischen Alpen dahinschlängeln, umständlich zwar, aber ganz idyllisch. Hier sammeln wir die meisten landschaftlichen Eindrücke, die sich oft ganz überraschend bieten. Ganz unten, möglichst nah an der Küste, erlaubt die Straße nebst den Uferpromenaden maritime Gefühle. Am Fuße der Apuanischen Alpen müssen die Menschen zusammenrücken, ihre Siedlungen sind im Laufe der Zeit zusammengewachsen, die Ortsschilder nicht leicht zu finden. Wir fahren auf der „strada provinciale 439“, können aber das Ortsende von Camaiore nicht erkennen.

   Pietrasanta – als heiliger Stein zu übersetzen – verdankt seinen Namen gar nicht dem weißen Marmor, sondern einem gleichnamigen Stadtvogt vom nahen Lucca. Obwohl sich hier über hundert Bildhauer  aus aller Welt niedergelassen haben, die Aufträge aus der ganzen Welt bekommen. Natürlich gibt es neben echten Kunstwerken auch viele billige touristische Souvenirs. Wir haben in der Piazza Statuto einen schattigen Parkplatz gefunden und folgen einfach dem natürlichen Lauf der Dinge und stehen am Beginn der langen Via Mazzini, der Lebensader von Pietrasanta. Die heimelige Vertrautheit der Via Vitt. Emanuele ist hier einer urbanen „passeggiata“ gewichen, die schnurgerade, schließlich noch leicht ansteigend in die Piazza del Duomo mündet. Am Abend ist es schwer hier durchzukommen, wenn alle sich auf die Beine gemacht haben, um am Puls von Pietrasanta zu sein, Jung und Alt, Paare und Singles, mit und ohne Hund. Man hat das Gefühl, nicht irgendwo zu sein, sondern ganz im Innersten von Pietrasanta. Jetzt mitten am Nachmittag ist das Weiterkommen noch etwas leichter. So strömen auch wir, langsam beschaulich, der Piazza Giordani Bruno zu, wie die Piazza del Duomo noch heißt, benannt nach dem Priester, Philosophen und Astronomen, der 1600 auf dem Scheiterhaufen starb, weil er die Unendlichkeit des Kosmos lehrte. Sehenswerte „palazzi“ säumen den Platz mit weit ausladenden Sonnenschirmen, die uns nicht vergeblich zum Verweilen an einem der kleinen Tische einladen. Wer ist da wem zum mahnenden Kontrapunkt geworden, der widerspenstige Astronom oder die kirchliche Inquisition?  Piazza und Dom mit dem freistehenden, backsteinernen, imposant aufragenden Glockenturm, unterstützt von der Chiesa di Sant’Agostino nebenan, erinnern auch an das gnadenlose Gerichtsverfahren von 1600. In der kleinen Chiesa della Misericordia zeigen zwei Fresken die Pforte zum Himmel und jene zur Hölle, „la Porta del Paradiso“ steht der „Porta dell’Inferno“ gegenüber. Ich kann mich einem intensiven Berührtsein nicht entziehen. Wir verlassen Pietrasanta nicht in der Meinung, alles gesehen zu haben, da gäbe es noch Vieles, das unsere Aufmerksamkeit und unser Staunen verdient hätte. Wir wollten der Stadt nur in die Augen schauen.

   Massa am Fuße des neunhundert Meter hohen Monte Belvedere, Sitz der Provinzregierung, leidet in seinem „Gesichtsausdruck“ heute noch an den Bomben, die von den Alliierten im Zweiten Weltkrieg auf diese Stadt geworfen wurden. Dass die Stadt im Zweiten Weltkrieg ganz im Zentrum der heißumkämpften „Gotenlinie“ lag, hat ihr jeden romantischen Charme genommen, der Wiederaufbau konnte ihr diesen nicht mehr zurückgeben. Nicht weit von hier mitten im Wald der Apuanischen Alpen werden wir mit dem, was hier schrecklich und unvorstellbar in diesem grauenhaftesten aller Kriege passiert ist, noch nachhaltig konfrontiert werden. Hoch über Massa thront noch immer majestätisch das „castello“ der Fürstenfamilie Malaspina. Vierhundert Jahre lang haben die Menschen voll Ehrfurcht und Angst da hinaufgeschaut, heute schauen die Menschen, die da über eine Treppengasse oder den Fahrweg hinaufgehen, den Ausblick bewundernd, in die Tiefe nach unten. Auch ich verliere mich beim Anblick einer solchen Burg leicht in romantisierenden Gedanken, aber diesmal hindert mich der Gedanke an die Gewalt, die Herrschende und Mächtige immer wieder ausgeübt haben, an der unbeschwerten Freude über diesen herrlichen Ausblick auf die Versilia.

   Den Spuren Michelangelos folgend, als er sich vor fünfhundert Jahren nach Carrara aufmachte, um die geeigneten Marmorblöcke für seinen David auszusuchen, fahren wir in die Stadt des Marmors. Wir wählen nicht die breite, vielspurige „strada“, die von der Autobahn steil nach oben führt, sondern die schmale sich an den Abhang der Alpi Apuane schmiegende Nebenstraße, die uns immer wieder zu schwierigen Ausweichmanövern zwingt. Unser erster Besuch des historischen Zentrums, des „centro storico“ von Carrara fällt etwas flüchtig aus. Wir finden uns bald an der Piazza Duomo ein, die überraschenderweise nicht viel Platz lässt für die Kathedrale dieser Stadt, den Duomo di Sant’Andrea. Wir lauschen darin andächtig der Orgelmusik, die wir dem Domorganisten verdanken, der sich gerade in einer barocken Komposition übt. Es ist überraschend ruhig hier, die weite palazzogesäumte Piazza Alberica fast menschenleer. Aber wir wollen ja ohnedies zuerst hinauf zu den „cave“, den Marmorsteinbrüchen, die von den Strandbädern unten am Meer wie Schneefelder erscheinen. Schon die Römer verstanden sich darin, große Marmorklötze aus dem Berg herauszubrechen. Heute werden mit riesigen Sägeblättern und Stahlseilen um ein Hundertfaches schneller mehrere Meter lange Quader herausgeschnitten, die von richtigen LKW-Ungetümen auf der engen Straße furchterregend zu Tal gebracht werden. Wenn uns ein solches entgegenkommt, machen wir lieber gleich Platz und fahren ganz zur Seite. In Reiseführern werden diese Bruchstellen poesievoll Wunden der Apuanischen Alpen genannt. Nirgendwo auf der Welt wird Marmor von solcher Qualität gewonnen und seine Vorräte hier lassen kein Ende absehen, das „toskanische Gold“ scheint nicht zu versiegen. Bei allem Staunen liegt auch etwas Unheimliches über diesen „cave“ und den monströsen Gerätschaften und Maschinen. Eigentlich kann nach unserem Ermessen hier jetzt nichts mehr kommen, was unser Staunen erweckt, aber es kommt doch.

   Wir fahren durch einen einfach aus dem Fels geschlagenen völlig unbeleuchteten Tunnel, sicher mehrere hundert Meter lang, Schotterstraße, dann geht es noch einmal über asphaltierte Serpentinen nach oben. Wir haben uns schon „am Ende der Welt“ geglaubt, da stehen wir plötzlich auf der lieblichen Piazza eines pittoresken mittelalterlich anmutenden kleinen Bergdorfes, Colonnata, und – zu unserem größten Erstaunen – sind da noch einige Autos geparkt. Aus dem einstmaligen Dorf für die Arbeiter in den Marmorbrüchen ist ein beliebtes Ausflugsziel geworden. Nur der imposante Blick hinauf und hinunter zu den weißen Öffnungen des marmornen Berginneren erinnert heute an die ursprüngliche Bestimmung dieser Ansiedlung hier oben, wo man eigentlich nichts mehr vermutet und erwartet. Ob es wahr ist oder nicht, die Römer sollen Kolonien von Sklaven zur Arbeit in den Steinbrüchen hier heraufgeschickt und angesiedelt haben. Heute ist es weniger der Marmor, der das Zweihundert-Seelen-Bergdorf Colonnata bekannt macht, sondern der nur aus Fett bestehende weiße Speck, der „lardo di colonnata“, der hier oben an mehr Ecken angeboten wird, als man Häuser zählen kann. Wir geben uns einem romantischen Rundgang hin, der leider nach wenigen Minuten schon zu Ende ist. Ich glaube, es war der englische Philosoph Sir Karl Popper, der einmal gemeint hat „small is beautiful“. Hier oben bekommt er auf jeden Fall recht. In der Locanda Apuana, ein reiner Familienbetrieb, wird uns herzlich ein delikater „pranzo“, ein köstliches Mittagessen, mit  typischen Gerichten aus der Region serviert und dazu ein feiner Massaretta Rosso aus den Abhängen der Apuanischen Alpen. Wir verstehen jetzt, dass Leute schon wegen des Essens hier heraufkommen, vor allem am Abend. Wieder unten in Carrara, überqueren wir ein paarmal den Carrione, der recht ungewöhnlich mächtig mitten durch Carrara dem nahen Meer zufließt. In trockenen Sommermonaten wird er eher als bescheidenes Rinnsal sich den Weg durch das Bachbett bahnen, wie alle Bäche aus den Tälern der Apuanischen Alpen.

   Als wir einmal zwischen Camaiore und Pietrasanta, vorbei an der Pieve di San Giovanni ein Stück weit der Via Francigena folgen, der alten Frankenstraße, die Pilger gegangen sind, um vom Frankenreich zu den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus in Rom zu gelangen, sehen wir oben auf einem bewaldeten Hügel anmutig Monteggiori herunterschauen – den Namen erfahren wir aber erst, als wir oben auf einem Hausnummernschild lesen „Monteggiori 81, commune di Camaiore“. Wir können es kaum glauben, aber von dieser Seite führt kein Weg hinauf. Wir müssen einen großen Umweg machen und können Monteggiori nur von der anderen Seite, der Rückseite, erreichen. Dort gehen wir dann das letzte, steile, ganz mit großen Steinen ausgelegte Stück des Weges, die Via del Castello hinauf, deren Eingang von einem Hund „bewacht“ wird, der jedoch unmissverständlich erkennen lässt, dass sein bewachender Eifer dahin ist und er keiner Menschenseele etwas zuleide tut. Endlich oben ist es, als ob wir ein verlassenes Dorf gefunden hätten. Da ist niemand zu sehen und auch nichts Menschliches zu hören. Da scheint wirklich niemand zu sein. Vor der „pieve“, der Dorfkirche, spaziert völlig ungestört ein Taubenpaar hin und her. Dann kommt noch ein Hund daher, im Aussehen wie ein verantwortungsbewusster Hirtenhund, in Wirklichkeit zankt er sich nur mit einer Katze, ebenso schwarz-weiß wie er, die partout nicht den Schubkarren verlassen will, den er für sich beansprucht. Eine andere Katze schaut diesem Zwist aus sicherer Entfernung von den Eingangsstufen des Nachbarhauses zu. Schließlich entdecken wir hinter einem Maschendrahtzaun noch eine Ziege, ebenfalls schwarz-weiß gefleckt, auch wenn Leser jetzt eine erzählerische Übertreibung vermuten. Ein merkwürdiges Trio in diesem „verlassenen“ Dorf. Aber die Blumentröge, die vor den Häusern stehen, geben uns Gewissheit, dass hinter diesen verschlossenen Türen doch Leute wohnen. Beim Verlassen steht dann tatsächlich ein alter Mann vor einer Haustür und wundert sich offensichtlich, was uns da herführt. Die wenigen Bewohner, kaum mehr als hundert, sind sicher großteils alte Leute, die bei diesem Wetter und um diese Zeit keinen Fuß vor die Tür setzen. Es sind diese Überraschungen, die wir an der Toskana so lieben. Man kann in der Früh beim besten Willen nicht wissen und sagen, was einen heute alles erwartet. Ganz überraschend findet man solche „luoghi nascosti“, versteckte Plätze, die uns kein Reiseführer verraten kann, weil er  selber nichts von ihnen weiß.

   Wir folgen der Straße, die in unzähligen, auch engen Windungen durch den Wald taleinwärts führt. Nebel hüllt den Weg ein. Dann nach vielleicht zehn Kilometern stehen wir in einer großen Lichtung und lesen auf einem Straßenschild „S. Anna, Parco Nazionale della Pace, centro nazionale della resistenza“. Ein großer würfelförmiger Gedenkstein teilt uns Unvorstellbares, Furchtbares mit: Am 12. August 1944 wurde dieser Ort Schauplatz eines der grausamsten Kriegsverbrechen der nationalsozialistischen deutschen Besatzungsmacht. Vier SS-Kolonnen, geführt von einheimischen Faschisten, umzingelten im Morgengrauen das kleine Dorf Sant’Anna di Stazzema und erschlugen oder verbrannten 560 unschuldige Menschen, größtenteils Frauen, alte Männer und Kinder, die in diesen Bergen Schutz vor den Furien des Krieges gesucht hatten. Die Kleinste von allen, Anna Pardini, war gerade mal zwei Wochen alt. Nach ihr wurde zur mahnenden Erinnerung dieser Platz benannt. Der wolkenverhangene Himmel, Regen und Nebel bilden solidarisch die stimmige Kulisse zu dieser Nachricht des Schreckens. Maschinengewehrsalven zerstörten damals auch die kleine Orgel in der Kirche hier oben und ließen die Musik verstummen – jahrzehntelanges Schweigen. Am 29. Juli 2007 kehrte die Musik wieder in diese kleine Kirche zurück. Benefizkonzerte in Deutschland und Italien, unter der gemeinsamen Schirmherrschaft des deutschen und italienischen Staatspräsidenten, ermöglichten diese „Friedensorgel“, die nun wieder diese Kirche im „Parco Nazionale della Pace“, im Friedenspark von Sant‘Anna erfüllt. Im „Museo Storico della Restistenza“, Museum des Widerstandes, gleich daneben, erfahren wir alle schrecklichen Einzelheiten jenes furchtbaren Tages im August 1944. Sant’Anna reißt uns heraus aus unseren arglosen Streifzügen über die Füße der Apuanischen Alpen.

   Als wir anderntags nach Montignoso unterwegs sind, haben wir noch Sant’Anna im Kopf. Aber das ist nicht der Grund, dass wir Montignoso zwischen Pietrasnata und Massa nicht und nicht finden. Da will und will kein Ortsschild „Montignoso“ auftauchen. Eine Frau mit einer Einkaufstasche in der Hand löst das Rätsel. Es gibt kein Montignoso, keinen Ort, der so heißt. Montignoso ist ein Sammelname für die vielen Ortsteile, die unter einer Verwaltung stehen. Dann suchen wir den Ortsteil, der doch so etwas wie das Gesicht von Montignoso ist, mit einem Rathaus, einer Chiesa, einer Piazza davor… Wir folgen der Wegbeschreibung der Dame aus „Montignoso“ und befinden uns schließlich in Piazza, so der Name für den ganzen Ortsteil. Tatsächlich befindet sich dort ein Rathaus, ein multifunktionales sogar, typisch toskanischer Klassizismus. Auf einer Steintafel der Fassade steht in großen Lettern „Municipio“. Das erste Rathaus mit einer Bar und zwei Tischen mit Sonnenschirmen davor auf der Piazza Sesto Paolini. Ebenfalls im Rathaus, die Polizia. Einer von ihnen steht aber gerade an der Theke in der Bar. Nur fünfundzwanzig Einwohner hat Piazza, erfahren wir dort. Wir glauben zuerst, etwas falsch verstanden zu haben, aber es bleibt dabei. Fünfundzwanzig Seelen, aber dennoch Rathaussitz von ganz Montignoso mit über zehntausend Einwohnern. Zugegeben, ein sehr schmuckes Rathaus und auch stattliches, wenn auch nicht groß. Auffallend die Tafeln aus weißem Marmor, die über die Fassade verteilt sind. Sie sind den gefallenen Partisanen gewidmet, die sich dem Faschismus entgegengestellt und ihren Widerstand mit dem Leben bezahlt haben, aber auch den alliierten Soldaten, die auf der sogenannten Gotenlinie gefallen sind, die hier am Fuße der Alpi Apuane verlief. Auf einem Spaziergang durch den Garten der nahen Villa Giorgini-Schiff fällt unser Blick auf einen kleinen Schaukasten, der ein Stück eines Astes von dem Baum zeigt, an dem am 24. Juli 1944, einen Monat vor dem Grauen von Sant’Anna, ein neunzehnjähriger Widerstandskämpfer aufgehängt wurde. Die „resistenza“, der mutige Widerstand gegen Nationalsozialimus und Faschismus hier am Fuße der apuanischen Berge. Wir setzen unseren Weg über die vielen unzähligen Windungen durch den Naturschutzpark der Apuanischen Alpen fort und haben von der Versilia Alta oben immer wieder einen herrlichen Ausblick auf die Riviera della Versilia unten.

   Unsere Neugierde, woher dieser Landstrich seinen Namen hat, führt uns schließlich nach Seravezza, ein paar Kilometer nördlich von Pietrasanta, etwas weiter im Landesinneren, am Fuße des fast eintausendsechshundert Meter hohen Monte Altissimo, also des höchsten Berges hier. Seravezza, Eingangstor in den geschützten „Parco delle Apuane“ ist ein aufstrebendes Dorf und möchte sich vom touristischen Kuchen ein größeres Stück abschneiden. Das spüren wir gleich, als wir nach unserer Ankunft in das Tourismusbüro gehen, wie wir das meistens tun, um ein paar gute Tipps zu bekommen und Antwort auf unsere Fragen. Eine charmante junge Dame bemüht sich mit großer Herzlichkeit, uns zu erklären, wie sehr Seravezza einen Besuch wert ist. Wie ist das nun mit dem Namen des Dorfes, das mit den dazugehörigen Ortsteilen und Fraktionen die Gemeinde Seravezza mit dreizehntausend Einwohnern bildet? Zwei „torrenti“ bzw. Wildbäche aus den Apuanischen Alpen, die Serra und die Vezza, treffen sich in Seravezza und fließen als Versilia gemeinsam dem nahen Meer zu. Diese beiden Bäche sind aber nicht die Namensgeber für Seravezza, wie es ja naheliegend wäre. Das Gegenteil ist der Fall, Seravezza hat den beiden Bächen den Namen gegeben, jeder hat eine Hälfte bekommen. Wir wandern zuerst bachaufwärts an der Villa Medicea vorbei, die wirklich eine schöne Erscheinung und Renaissanceschöpfung und daher begehrtes Fotomotiv ist. Auf vielen Ansichtskarten, in vielen Kalendern und Reiseführern zu sehen. Herzog Cosimo I. von Florenz, aus dem Haus der Medici, hat 1561 gut gewählt. Die Villa verleiht dem bescheidenen Seravezza ein wenig Flair großer Vergangenheit. Im Königreich Italien diente sie als Rathaus, heute ist sie ein Museum. Wir essen ganz in der Nähe im „Il Giardino dei Medici“ zu Mittag und genießen die regionaltypische Küche – unter hauptsächlich einheimischen Gästen, darunter viele Arbeiter, die in ihrer Mittagspause hierherkommen. Sie sind wie immer und überall eine verlässliche Empfehlung. Viele Brücken queren die beiden Bäche, um das Dorf quasi wie Klammern zusammenzuhalten. Serevezza ist das Leben an den beiden Bächen, Serra und Vezza. Ihre Vereinigung – sie stoßen nicht aufeinander, sondern die Vezza nimmt zuerst einen weiten Bogen, um sich sanft mit der Serra zu vereinen – gibt der ganzen Region ihren Namen: Versilia.

 

© Josef Gredler