39  Sonnenschirme, Liegestühle, Sand und Meer

 

   Hinter den endlos scheinenden Reihen Zigtausender bunter Sonnenschirme erhebt sich die gezackte Silhouette der Apuanischen Alpen als eindrucksvolle Hintergrundkulisse. Marmorabbrüche erwecken den Eindruck weiß leuchtender Schneefelder. Über dreißig Kilometer erstreckt sich der Strand der Versilia von Marina di Massa bis Marina di Torre del Lago Puccini, südlich von Viareggio, und wird in den heißen Sommermonaten zum Ziel für die Unzähligen, die in der Toskana erholsame Stunden und Tage durch Sand und Meer suchen. Namensgeber dieses längsten geschlossenen Sandstrandes der Toskana ist der unscheinbare Fluss Versilia, den kaum jemand der hier Urlaubenden kennt oder gesehen hat und der, außer bei heftigen Unwettern, nur als Rinnsal das ligurische Meer erreicht. Kilometerlang reihen sich Strandbäder, Bars, Restaurants, Eisdielen und Geschäfte aneinander, die an einer großzügig breiten Promenade wie Perlen aufgefädelt sind. Die Massen sollen auf diesem „corso“ gut vorankommen, um in ein Leben der Leichtigkeit und der Annehmlichkeiten einzutreten, das sie hier für ein paar Tage oder Wochen suchen. Auch dieses Gesicht hat die Toskana, um die anzulächeln und willkommen zu heißen, die hier nur ihre geplagte Seele baumeln lassen wollen – unter einem roten, gelben, blauen… „ombrellone“, der die beiden Liegestühle darunter vor der Sonne schützt.

   Unter jedem Sonnenschirm ist eine kleine Welt für sich, nur ein paar Quadratmeter groß, aber groß genug, um jene Welt hinter sich zu lassen, die oft drückend auf denen lastet, die hier Zuflucht suchen. Hier gibt es keine Ziele und Vorgaben, was man heute noch alles erledigen muss. Keine Termine. Die Uhr des Müssens steht still. Sonnenschirm, Liegestuhl, Sand und Wellen kennen keine Uhr. Viele fahren hierher, um die Zeit – für ein paar Tage oder Wochen zumindest – anzuhalten. Die Entspannung und Erholung Suchenden genießen die Freiheit der Anonymität. Die Selbstbestimmung klettert auf der Messskala ganz nach oben. Hier unter dem Sonnenschirm sind sie ganz für sich, ohne Namen, ohne Adresse, ohne Telefonnummer, nicht erreichbar. Nebenan, einen Sonnenschirm weiter, beginnt wieder so eine eigene kleine Welt. Man redet zwischen den Sonnenschirmen nicht hin und her, es sei denn, man gehört zusammen. So liegt über der überfüllten Riviera della Versilia auch eine gewisse Einsamkeit. Die Menschen haben sich wie in ein Schneckenhaus zurückgezogen.

   Wer seine paar Quadratmeter Schatten verlässt, spürt den heißen Sand brennend unter den Fußsohlen, bis diese dann vom Meer umspült werden, das unablässig seine Wellen gegen den feuchten, flachen Sandstrand spült. Hier sucht man nicht Bewegung und sportliche Ertüchtigung, das Schwimmen ist mehr ein Baden. Das beruhigende, sanfte, gleichmäßige Rauschen des Meeres verwandelt alles in eine imaginäre Leichtigkeit. Nur die Strandverkäufer, die ihre afrikanische Heimat verlassen haben und hier in der gleißenden Hitze schwer beladen von Sonnenschirm zu Sonnenschirm ziehen und ihre Sonnenbrillen, Strandtücher, Sonnenhüte, Uhren, Kettchen und Armreifen anbieten, manchmal sogar aufdrängen, erinnern daran, dass das Leben hier auch Mühe und Plag ist. „…marina, mare, lido, sole, sabbia…“ sind die magischen Worte, die die Massen hierherlocken und alle Annehmlichkeiten erwarten lassen, die man sich gönnt, denn „man ist ja im Urlaub“. Und weil Urlaub auch durch den Magen geht, füllen sich „bar, gelateria, caffetteria, trattoria, ristorante“ und verwandeln die Promenade in eine kulinarische Flaniermeile, wo es für jeden „gusto“ und jedes Urlaubsbudget etwas gibt.

   Man sucht hier nicht den faszinierenden Ausblick auf das Meer, und wenn doch, es gibt ihn nicht. Der Blick aufs Meer endet immer gleich an jener Linie, die wie mit dem Lineal gezogen den Horizont bildet, wo Himmel und Meer sich berühren. Da macht es keinen Unterschied, ob man sich an der Küste hier oder ein paar Kilometer weiter oben oder weiter unten befindet. Wer schöne, reizvolle Buchten möchte, der soll eine Insel des toskanischen Archipels aufsuchen. Die Küste der Versilia verläuft von Norden nach Süden immer gleich, eintönig, gewiss nicht aufregend, aber das spielt keine Rolle, denn die Leute suchen hier nicht Spannung, sondern Entspannung. Und der gleichförmige Verlauf der Küste hat wirklich auch etwas Beruhigendes.

   Gegen Mittag wird der Sand dann so heiß, dass man den Schatten unter dem Sonnenschirm nicht ohne Strandschlapfen verlassen kann. Wenn die Sonne am höchsten steht, kehrt eine seltsame Stille ein, die Stimmen versiegen und nur das Rauschen des Meeres ist zu hören. Am Nachmittag kommt dann immer kühlender Wind auf, der vom Meer her angenehm durch die Reihen der Sonnenschirme weht. Beiseite gelegte Zeitungen und Bücher blättern sich dann von selber um. Und wenn man dem Ufergeplätscher einmal entkommen will und weiter hinausschwimmen möchte, sollte man sich die Farbe der Sonnenschirme merken, um wieder seinen Platz, sein „Reich unter der Sonne“ zu finden, das sich nur durch die Farbe von den anderen unterscheidet. Rot, Blau, Grün, Gelb … darauf kommt es hier an. Michelangelo, Leonardo da Vinci, Donatello, Raffael…, ihre großen Schöpfungen sind weit weg von diesem Strand. Ihre Namen werden hier nicht genannt. Doch sollten kunst- und kulturbeflissene Toskanaliebhaber, „amanti della Toscana“, sich hüten, mit Geringschätzung auf diese Strandtouristen herabzuschauen, die nicht zu kulturellen Höhenflügen hierhergekommen sind. Dass entlang dieser alle Annehmlichkeiten bietenden Riviera della Versilia einst fromme Pilger auf der Via Francigena auf dem Weg nach Rom ganz anderes im Sinn hatten, davon weiß man hier nichts, obwohl die Liegestühle nur wenige hundert Meter vom Verlauf dieses historischen Pilgerweges entfernt sind. Aber hier am Strand liegen keine Pilger.

   Auch die „toscani“ aus den Orten längs der Küste und auf den Abhängen der Alpi Apuane kommen hierher. Auch sie lieben und suchen das Meer. Sie sind von den Touristen leicht am spärlichen Gepäck zu unterscheiden. Ein junger Herr aus Camaiore, wie sich dann herausstellt, kommt nach der Arbeit mit seinem Fahrrad hierher, nur mit einer Matte unter dem Arm, rollt diese auf dem Sand aus und… genießt die Stunden des sich neigenden Tages. In den Sommermonaten gehört die Küste der Versilia vor allem den Gästen aus dem In- und Ausland, die sich hier ihre Wünsche erfüllen, die im Laufe des Jahres bis zur Urlaubsreife gewachsen sind. Ob es den Toskanern, die hier leben, nicht manchmal zu viel wird? Auf der breiten Promenade und unter den Sonnenschirmen gehören sie jetzt jedenfalls zur Minderheit. Aber viele von ihnen leben davon, dass möglichst viele Urlauber hierherkommen. Der Anblick der mit unzähligen Leibern bedeckten Strände bedeutet auch, dass Menschen Arbeit haben. Wer einen Küstenstreifen, auch wenn er schmal ist, sein Eigen nennen kann und darauf sein „stabilimento balneare“, sein Strandbad, errichtet hat, für den ist so eine wie von Ameisen bedeckte Küste wie der Anblick einer weiten, dichten Blumenwiese. Wenn die heißen Sommermonate wieder vorbei sind, die Strände sich leeren, die „bagni“ oder „stabilimenti balneari“ wieder schließen, Sonnenschirme und Liegestühle wieder eingeholt werden, der Unrat der Urlauber eingesammelt wird und schon wieder Vorbereitungen für die nächste Invasion getroffen werden. dann gehört der Strand wieder ganz ihnen. Nur noch ein paar Einheimische liegen dann noch am Strand und genießen die Sonnenstrahlen, deren wärmende Kraft schon schwach geworden ist. Manche von ihnen kommen schon in den ersten Frühlingstagen hierher, liegen im Sand, die ersten wärmenden Strahlen erheischend, oder unternehmen ausgedehnte Strandspaziergänge. Unentwegte kommen sogar im Winter hierher.

 

© Josef Gredler