03 Leidenschaftliche Erwartung der Toskana
Obwohl ich nur wenige Wochen im Jahr mit Leib und Seele in der Toskana verbringen kann, meine Gedanken suchen fast täglich einen ihrer beschaulichen Orte auf, eine „piazza“, eine Gasse, eine Kirche, ein Kloster, ein „castello“, eine Bar, den Garten einer Villa, ein altes Landhaus, eine Brücke, einen Hügel oben oder eine Senke unten… Wenn der nächste Aufenthalt hinter dem Apennin näher rückt, dauern meine geistigen Ausflüge dorthin immer länger, verweile ich öfter über Büchern, von denen ich mich nur allzu gern und leicht dorthin entführen lasse. Wenn dann der ersehnte Tag gekommen ist und wir noch in der Morgendämmerung losfahren, steigt mit jedem Kilometer die Spannung und Vorfreude. Besonders die Fahrt über den Apennin wird zu einem erwartungsvollen Erlebnis.
Die Autobahn schwenkt nahe Bologna in einem weit angelegten Bogen, den man wegen der sanften bewaldeten Erhebungen und Hügel kaum erkennt, nach Süden direkt auf den Apennin zu. Den Kamm des Apennins bekommt man nur selten zu sehen, meist verstellt irgendein Waldrücken den Blick nach oben. Die Autobahn schmiegt sich an die sanft ansteigende Hügellandschaft, immer wieder aber müssen Brücken helfen, Gräben zu überwinden, müssen Tunnel die kürzeste Linie durch Erdreich und Felsen nehmen. Man spürt, diese neue Autobahn ist für Menschen gebaut, die es eilig haben, die einfach möglichst schnell von hier nach dort kommen wollen. So schlängelt sich diese Autobahn in weiten trägen Windungen über Brücken und durch Tunnels den Apennin hinauf. Die alte Straße mit ihren vielen Serpentinen musste einer bequemen, schnellen Straße Platz machen, die aber viel vom einstigen Charme verloren hat. Die engen Serpentinen, die mir noch in guter Erinnerung sind, haben einer konsequenten Begradigung und Beschleunigung weichen müssen. Die hoch stehende Augustsonne schenkt nur selten Schatten. Nur die immer wiederkehrende Dunkelheit der Tunnels entzieht uns ihren Strahlen. Man kann gar nicht erkennen, dass man den Kamm des Apennins schon erreicht hat, da taucht auf der rechten Seite bei Kilometer 245 das verheißungsvolle Straßenschild „Toscana“ auf. Es liest sich für uns wie ein großes Versprechen. Der Apennin gibt den Blick in die Toskana noch nicht frei. Aber allein das Schild weckt in uns viele innere Bilder.
Die Landschaft wird jetzt weiter, offener, aber man bekommt noch nicht viel von der Toskana zu sehen. Wir fahren den Apennin ebenso sanft, was die Steigung betrifft, in weiten Windungen wieder hinunter, es geht zwar schnell, aber nur unmerklich abwärts. Der Apennin neigt sich endgültig der Toskana zu. Die ersten Zypressen, toskanische Vorboten, erheben sich in der Landschaft. Es müsste doch endlich Florenz auftauchen, da unten muss doch Florenz sein, aber die geschichtsträchtige Stadt ziert sich. Sie lässt sich nicht einfach von oben herab flüchtig anstarren. Zur Rechten kann man die dunklen Wälder des Mugello sehen, aber sie sind mehr ein verdeckender Vorhang. Da bekommen wir doch eine kleine Kostprobe, für ein paar Augenblicke zeigt sich rechts im Licht der Sonne silberglänzend der Lago di Bilancino. Am südlichen Horizont werden in toskanischer Stimmung die vertrauten „colline“, Hügel des Chianti Classico sichtbar. Man spürt, riecht förmlich, in der Toskana angekommen zu sein. Man hat den Talboden des Arno erreicht, aber wo ist Florenz?
Man schaut neugierig nach Osten, wo schon längst die Silhouette der Stadt auftauchen müsste. Man muss ganz aufmerksam sein, um zwischen autobahnsäumenden Bauten einen kurzen Blick auf Florenz, auf Fiorentino, die Blühende erheischen zu können. Da zeigen sich weit hinten – für ein paar Augenblicke nur – die Kuppel von Brunelleschi und der „campanile“, Glockenturm von Giotto. Man möchte sich des Anblicks erfreuen, schon schiebt sich eine Lärmschutzwand dazwischen, als müsste sie die Menschen dahinter nicht nur vor dem Lärm der vorbeirasenden Autos schützen, sondern Florenz auch vor den bloß gaffenden Blicken der Insassen. Wer Florenz sehen will, muss anhalten. So wird auch diesmal unsere leidenschaftliche Freude an der Toskana uns immer wieder anhalten und innehalten lassen.
© Josef Gredler