36 Von der Piazzale Michelangelo nach San Miniato al Monte
Auch wenn man voller Leidenschaft durch die Straßen von Florenz streift, um begierig die Stadt zu besichtigen, bekommt man diese letztlich nie wirklich zu Gesicht. Man kann ihre Schätze der Vergangenheit, ihre Zeugnisse großer Geschichte bestaunen, wenn man aber einen Blick auf die Stadt, auf sie selber werfen möchte, dann muss man da heraufkommen. Würde man einen Fotografen mit der schönsten Ansicht von Florenz beauftragen, er würde sicher mit Stativ und Kamera hierherkommen. Das haben auch wir getan, allerdings ohne Gerätschaft, und stehen jetzt an der Brüstung der Piazzale Michelangelo und lassen unsere Augen über die Stadt schweifen. Die Wiege der Renaissance breitet sich vor uns aus, als wollte sie zeigen, was sie alles zu bieten hat. Und es ist, als ob sich da ein Fotograf schon zu schaffen gemacht und die großen Werke sakraler und profaner Baukunst entsprechend postiert hätte, damit sie genau den richtigen Platz einnehmen und trefflich ins Bild kommen, wie Fotografen das zu tun pflegen. Alles erscheint wie in einem großen Atelier unter freiem Himmel, alles genau im richtigen Abstand und in der richtigen Perspektive. Ob man will oder nicht, der Blick fällt zuerst auf den Dom Santa Maria del Fiore mit seiner genialen, eindrucksvollen Kuppel, die zum Wahrzeichen der Stadt geworden ist. Welches andere Bauwerk hätte es mit diesem Geniestreich Brunelleschis aufnehmen können? Nicht einmal der Campanile von Giotto, der fast eifersüchtig auf der Westseite des Doms nach oben strebt, aber die Kuppel nicht ganz erreicht.
Unsere Augen tasten sich südwärts weiter zum Palazzo Vecchio, schweifen dann den Arno aufwärts zur Kirche Santa Croce, die sich gerade vor uns da unten gleich hinter dem Arno erhebt, uns aber leider den Rücken zuwendet und so den Anblick der herrlichen gotischen Fassade verwehrt. Große Söhne der Stadt, wie Dante, Michelangelo, Galiliei sind in Santa Croce begraben bzw. darin mit einem Grabmal geehrt. Der Ponte Vecchio, der seit mehr als fünfhundert Jahren vergeblich versucht, das große Florenz nördlich des Arno mit dem südlichen zu verbinden, das man etwas abschätzig einfach Oltrarno nannte und immer noch so nennt. Heute noch muss sich dieses Florenz „jenseits des Arno“ hinter dem „eigentlichen“ Florenz auf der anderen, der nördlichen Seite des Flusses einreihen. Daran können auch der imposante Palazzo Pitti, die Kirche Santo Spirito – Brunelleschis letzte Kirche – und Santa Maria del Carmine mit den überragenden Fresken in der Cappella Brancacci nichts ändern. Die Cafetiers nördlich des Arno können für einen Cappuccino fast das Doppelte verlangen. Unsere Augen schweben förmlich über die Stadt, überspringen dabei immer wieder den Arno, der von hier oben den Eindruck erweckt, als müsse auch er bewundernd anhalten. Dann bleiben sie wieder hängen – bei den Uffizien, beim Giardino di Bobboli, beim Ponte Santa Trinità und beim Ponte alle Grazie, Santa Maria Novella bleibt im Hintergrund. Es sind die Kirchen mit ihren Türmen, die alle anderen Bauten überragen. Wir haben Florenz schon vom Campanile des Doms aus betrachtet, unvergesslich. Wir haben von Fiesole aus der Ferne unseren Blick auf Florenz gerichtet und glaubten, schon von weitem die Größe der Stadt – nicht an Einwohnern oder Quadratkilometern – zu erahnen. Wenn ich zwischen diesen drei Möglichkeiten die Qual der Wahl hätte, ich würde mich hier an die Brüstung der Piazzale Michelangelo stellen. Von hier oben zeigt sich die Stadt, als hätte sie sich für den Fotografen zurechtgemacht und postiert, damit diese Bilder dann hinausgehen in die ganze Welt.
Man kann vom Ponte Vecchio zu Fuß da heraufwandern zur Piazzale Michelangelo oder diese von Westen über die Viale Galileo Galilei oder von Osten über die Viale Michelangelo mit dem Auto gut erreichen. Wir kommen heute von der Porta Romana über die Viale Galileo Galilei und können uns auf der noch leeren Piazzale den Parkplatz noch aussuchen. Mitte September hat der Strom der Touristen doch schon etwas nachgelassen und das Wetter hat sich noch nicht entschieden, sollen die Wolken der Sonne weichen oder sollen sie sich immer wieder mit einem leichten Regen über der Stadt entladen. Außerdem ist es erst acht Uhr. Und so zögern auch die Besucher noch und warten ab. Die Leute, die nach Florenz zur Arbeit müssen, parken ihre Autos anderswo oder kommen mit dem Bus.
Nachdem wir uns dann doch gelöst haben von diesem Blick hinunter auf die Stadt, müssen wir uns nur umdrehen und hinaufschauen zu unserem anderen Ziel, das uns hierhergeführt hat. Die Piazzale Michelangelo liegt auf halber Höhe eines Bergrückens bzw. Hügels, der sich auf den Monte alle Croci hinaufzieht zur Kirche San Miniato al Monte und dem Kloster. Es ist kaum mehr als eine Viertelstunde, die man braucht, um bequem von der Piazzale Michelangelo hinaufzugehen nach San Miniato al Monte. Wir überqueren die Viale und steigen die freie Steintreppe zur Kirche San Salvatore hinauf, in deren nüchternem Halbdunkel sich in der Apsis eindrucksvoll ein großes Kruzifix erhebt. Die stille Verlassenheit von San Salvatore verbreitet eine gewisse Karfreitagsstimmung. Dieser „Aufstieg“ nach San Miniato ist mehr ein vergnügliches Aufwärtsspazieren auf bequemen asphaltierten Serpentinen, die wir alsbald verlassen, um unser Ziel auf dem schmalen, aber beschaulichen Steig zwischen den Bäumen hindurch zu erreichen. Bald haben wir den weiten Platz vor der Kirche erreicht, vor uns breitet sich unten Florenz aus und liegt dieser Anhöhe gleichsam zu Füßen. Hinter uns erhebt sich die romanische Fassade, im Wechselspiel von grünem und weißem Marmor. Auch ohne es von einem der Patres der Olivetaner-Benediktiner-Mönchsgemeinschaft zu erfahren, spürt man förmlich, dass dieser Ort hier oben eine lange Geschichte haben muss. Ein junger christgläubiger Kaufmann aus Armenien – oder war er syrischer Herkunft – erlitt mit anderen Christen am Arno das Martyrium durch den römischen Kaiser Decius. Seine Reliquien ruhen in dieser Kirche, die zur Gedenkstätte und zum Wallfahrtsort geworden ist, aber nicht nur fromme Erinnerung sein möchte, sondern auch gläubige, hoffnungsvolle Vorausschau auf Künftiges, Kommendes. Öffnung nach oben, „Pforte des Himmels“ will sie den Menschen sein, wie es über der Heiligen Pforte in Marmor eingeritzt ist. Dieser Hügel, im Mittelalter auch Florentiner Berg genannt, war schon in vorrömischer Zeit ein heiliger Ort, ein geweihter Hain. Hier scheint sich mir heute noch Oben mit Unten, Außen mit Innen, Vergangenes mit Künftigem, Weltliches mit Göttlichem zu verbinden. Nur in dieser Verbindung kann der Mensch ganz zu sich kommen und ganz er selber werden. San Miniato al Monte hat eine bewegte Geschichte hinter sich, mit Höhen und Abgründen, Aufstieg und Niedergang, manchmal schien der letzte Funke erloschen zu sein, um dann doch wieder glanzvoll aufzuleuchten. Ende und Zukunft lagen oft eng beieinander.
Diese Verbindung suchen auch wir, wenn wir jetzt in diese tausend Jahre alte Basilika eintreten und diese nicht nur mit kunsthistorischer Neugier besichtigen, sondern immer auch die Botschaft hinter der Kunst aufspüren und für uns freilegen möchten. In der Halbkuppel der Apsis bündelt sich alle Botschaft von San Miniato al Monte, die schon das Mosaik auf goldenem Grund unter dem Giebel der Fassade uns Eintretenden mitgeben wollte und die hier kunstvoll von Wänden, Decken und Säulen verkündet wird: Christus der Pantokrator – das Um und Auf der ganzen Schöpfung in Vergangenheit und Zukunft – zwischen Maria und Minias. Die Anhöhe da hier oben mit der Basilika sollen jeden, der heraufkommt, auch ihre verwandelnde Kraft erfahren lassen. Nach fast zwei Stunden verlassen wir die Kirche, gehen die breit angelegte Steintreppe hinunter und suchen den Weg, der uns all das, was wir jetzt „von innen“ gesehen haben, „außen“ umrunden lässt. Es würde sonst noch etwas fehlen, unvollständig bleiben. Im Schatten geometrisch exakt angeordneter schlanker Zypressen an der mächtigen mehr als zehn Meter hohen Mauer vorbei, die den ganzen Komplex San Miniato al Monte umschließt, als wollte sie ihn schützen und festhalten, gehen wir um diesen außen herum. Dass wir es schweigend tun, wird uns erst hinterher bewusst. Aber es war nicht der Ort und die Zeit vieler Worte, es bedurfte ihrer nicht. Keine Menschenseele treffen wir an. Wir spüren die Ausstrahlung dieser Anhöhe, die von alters her ein heiliger Ort war.
© Josef Gredler