Josef Gredler

46 Elba – Italien im Kleinformat

 

Wenn man an einem klaren Frühlingstag von der Rocchetta auf der Piazza Giovanni Bovio in Piombino hinüberschaut zur Insel Elba, dann scheint diese kaum mehr als einen Steinwurf entfernt, als könnte man sie schwimmend leicht erreichen. Bei der Überfahrt mit der Fähre erweist sich dieser Eindruck dann doch als Täuschung. Diese größte Insel des toskanischen Archipels ist doch mehr als zehn Kilometer vom Festland entfernt. Meine Frau und ich möchten jetzt im April die Insel durchstreifen, wenn alles blüht. „L’isola è in fiore“, wie auf einem Plakat zu lesen ist, und tatsächlich, die ganze Insel ist in Blüte.

Wenn wir am Morgen unser Apartment verlassen, dann müssen wir zuerst an mehr als hundert hohen Papageienblumen vorbei, die ihre bizarren orangefarbenen Blüten in den Himmel recken. Auf Elba treibt die Natur jetzt mit den bunten Blüten ihr übermütiges Spiel. Ausgelassen erheben sie sich in bunter Vielfalt aus dem verschwenderischen, vielgestaltigen Grün, das die Insel bedeckt. Eugenio hat hier in Schiopparello, am Golf von Portoferraio, sein Landgut und wir sind seine Gäste. Von früh bis spät arbeitet er draußen auf dem Flecken Erde, der ihm gehört, und spielt Geburtshelfer für das Leben, das seiner rot aufgepflügten Erde entweicht. Das Land, die Erde hier ist verschwenderisch fruchtbar. Wenn man den Kern einer Frucht verliert, dann würde im darauffolgenden Jahr wohl ein zartes Bäumchen sich der Sonne zuwenden. Eugenio hat Sorge, dass eine große Baugesellschaft einmal das Gebiet hier verbauen könnte. Dieser Flecken Erde ist ein Paradies, ein Eden, das zu verbauen und so dem Mammon zu opfern, eine Todsünde wäre. Die Erde Elbas und alles, was sie hervorbringt, versprüht einen Duft von Freiheit. So dürfen Eugenios Hühner frei herumlaufen, stets von einem Hahn beobachtet und begleitet. Der Natur sind hier nicht diese verunstaltenden und einschnürenden Zwänge auferlegt. Der Natur ist hier die Freiheit geschenkt und Eugenio weiß sich ihr ganz verbunden, weiß sich als Teil von ihr.

Von hier, von Eugenios Flecken Erde, brechen wir jeden Tag auf, streunen durch die Insel und kehren am Abend wieder hierher zurück. Was tun wir Besonderes? Überhaupt nichts Besonderes, wir sind unterwegs, tauchen ein in die Landschaft der Insel, gehen, schauen, lauschen, fühlen, bleiben stehen und tun oft lange nichts, nichts anderes als jemand, der gerade einer Musik lauscht, sich ihr hingibt, von ihren Klängen sich erfüllen lässt. Wer uns folgt, würde unsere Begeisterung vielleicht nicht immer oder oft gar nicht verstehen und in dem, was uns zum Zauber wird, nur Gewöhnliches erkennen.

Wir schlendern in Portoferraio hufeisenförmig den bilderbuchgleichen alten Darsenahafen entlang, die Sonne steht noch im Osten, und tauchen durch die „Porta a Mare“ in die Piazza Cavour, in die Altstadt ein, die uns noch ihre morgendliche Ruhe schenkt, um sich wenige Stunden später mit Stadtbewohnern und Touristen gleichermaßen zu füllen und in buntes Treiben zu verwandeln. Doch vorher steigen wir zuerst über breite Stufen aus Backsteinen und streben immer aufwärts durch steile und enge Gassen der „Fortezza Falcone“ zu, der Falkenfestung, Teil der „Fortezze Medicee“. Cosimo I, ein Spross der Medici, wollte damit vor einem halben Jahrtausend seine Stadt vor fremden Zugriff schützen. Heute kann man darin für Stunden in romantischer Schönheit verschwinden. Wir halten über die Mauern Ausschau nach allen Seiten und erfreuen uns an einem betörenden 360 Grad-Panorama. Als ich mich gerade über eine der hohen verwinkelten Mauern beuge, um in die Tiefe zu sehen, da landet kaum zwei Meter vor mir eine Möwe auf dem äußersten Mauerrand und bleibt ohne Scheu sitzen, als wollte sie die nunmehr friedliche Stimmung und Bestimmung dieser Anlage symbolisieren. Als ich mir dann auch einen Blick in die Tiefe erlaube, sehe ich unten den schmalen Strand von Portoferraio, Le Viste, ein schmales, kaum mehr als ein paar Meter breites, fast weißes Band zwischen den fast senkrechten Abhängen der Festigungsanlage und dem Meer. Noch menschenleer, aber an heißen Sommertagen muss da unten ein großes Gedränge sein von Jung und Alt, von Stadtbewohnern und Touristen.

Ein plötzlicher Regenguss zwingt uns, dass wir uns in die „fortezza“ zurückziehen. Doch bald durchbricht die Sonne die Wolken und wir glauben, uns in einer romantischen Parkanlage zu befinden, die ihre ursprüngliche Bestimmung vergessen lässt. Wir schlendern die terrassenförmig angelegten Innenhöfe bzw. Gartenebenen hinunter, genießen die Schönheit und Stille der Anlage und verbringen auf den Bänken zwischen den Bäumen und Sträuchern immer wieder die eine oder andere Viertelstunde. Als wir unten die „Porta a Terra“ erreichen, sind Stunden vergangen und die Sonne hat den Zenit schon überschritten. Was einstmals kriegerischem Schrecken bestimmt war, ist fünfhundert Jahre später an schönen Frühlingstagen ein friedlicher, paradiesischer Garten. Die Wurzeln von Portoferraio reichen jedoch viel tiefer hinein in die Geschichte als diese Festigungsanlage, aus der wir gerade kommen, um in die Altstadt einzutauchen. Hier in Portoferraio haben vor über zwei Jahrtausenden schon die Etrusker gesiedelt und brachten die Insel zu einer ersten Blüte. Die griechische Mythologie erzählt uns, dass hier schon die Argonauten an Land gegangen sein sollen. Der Ort hier ist ja wirklich sagenhaft.

Unzweifelhaft spürt man diese tiefe Verwurzelung in der Geschichte, wenn man nicht nur oberflächlich schaut, sondern zu einem durchdringenden innerlichen Schauen bereit ist, zu dem die Stadt und die ganze Insel allemal einladen. Nach den Römern fielen die Langobarden über die Insel her und zerstörten viele Siedlungen. Die Sarazenen wüteten und vergingen sich immer wieder an dieser Insel. Piraten überfielen immer wieder Dörfer, plünderten, töteten und verschleppten Bewohner. Man darf sich von der heutigen elbanischen Idylle nicht täuschen lassen und die leidvollen und schrecklichen Ereignisse und Epochen in der Geschichte Elbas nicht ausblenden. Die Insel wurde immer wieder Spielball machtbesessener Begehrlichkeiten. Wie ein Juwel ragt sie aus dem Wasser, dem toskanischen Festland vorgelagert und von tyrrhenischen Wellen umspült.

Westlich von Portoferraio ragt eine Landzunge, der „Capo d’Enfola“, mehr als sieben Kilometer ins Meer hinein. Eine ausgedehnte Rundwanderung führt uns hinaus zu den schroffen Felsklippen, die senkrecht aus dem Meer ragen. Die Wellen zerbrechen so lautstark an den Felsen, dass lautes Zurufen notwendig, damit wir einander verstehen. Über den Golf von Viticcio, Biodola und Procchio schauen wir hinüber auf den mehr als zehn Kilometer entfernten Monte Capanna und sehen, vom Dunst etwas verschleiert, ein paar helle Flecken in seinen bewaldeten Abhängen. Einer davon muss wohl das Bergdorf Marciana Alta sein, das wir auch noch aufsuchen wollen.

Elba, wenig mehr als zweihundert Quadratkilometer groß, zeigt den Besuchern zwei verschiedene Gesichter. Der Westen lockt die Menschen verführerisch an seine zahlreichen verzaubernden Buchten, während der Nordosten mit seinen schroff abfallenden Küsten sich weniger einladend zeigt, mitunter verschlossen oder gar abweisend wirkt, als wollte er nicht, dass ihm Menschen von überall her zu nahe kommen. Wer aber sich von diesem ersten Eindruck nicht abhalten lässt und diesen Nordosten näher kennenlernen will, kann mit ihm innige Freundschaft schließen. Wir wenden uns bewusst zuerst nach Nordosten und schlängeln uns bergauf auf der „strada provinciale 32“ dem Wegweiser „Rio nell’Elba“ folgend. Auf den ersten Kilometern begleitet uns noch das Meer, doch dann tauchen wir bald in eine von unzugänglichen Schluchten durchzogene einsame Waldlandschaft ein.

Die Straße ist asphaltiert und gut befahrbar, wenn auch immer wieder etwas schmal. Die Insel scheint hier wie menschenleer, Wölfe und Bären könnte man hier vermuten, doch die gibt es auf Elba nicht. Plötzlich kommt uns aus einer Kurve ein Kleinwagen entgegen, der es offensichtlich eilig hat, weil er zur Arbeit nach Portoferraio muss – allerdings auf der falschen Seite, weil er ganz nach italienischer Gewohnheit die Kurve schneidet. Es geht gerade noch einmal gut. Den charmanten Blick der jungen Dame deuten wir als Entschuldigung. Sie hat es eilig und muss weiter. Links über uns thront die Ruine des mächtigen Castello del Volterraio, nur über einen Steig erreichbar. Muttergottseelenallein schlängeln wir uns weiter bergaufwärts, bis wir auf einmal die Passhöhe erreichen und nach einer Biegung unter uns plötzlich die Dächer des kleinen elbanischen Bergdorfes Rio nell’Elba auftauchen. Die Häuser stehen ganz dicht zusammengedrängt, als müssten sie sich aneinander festhalten in dieser steil abfallenden Waldregion.

Einstmals war Rio nell‘Elba das Zentrum des Eisenerzabbaus der Insel mit fünftausend Einwohnern, heute sind es gerade mal fünfhundert, die hier oben leben, aber nicht vom Eisenerzabbau, der längst eingestellt ist, sondern von der Schönheit und Idylle in so exponierter Lage bzw. von den Touristen, die davon angelockt werden. Vor dem Dorfeingang suche ich zuerst vergeblich eine Lücke zwischen den geparkten Autos der Bewohner, bis mich ein betagter Dorfbewohner lächelnd ermutigt, mein Auto „da drüben, neben dem Baum“ abzustellen, mir versichernd, dass die örtlichen Carabinieri da sicher ein Auge zudrücken. Er muss es wohl wissen und behält recht. Leider ist der Liebreiz der Piazza del Popolo, der einzigen ebenen Fläche da heroben, durch die vielen „bancarelle“, die Verkaufsstände des wöchentlichen Marktes, heute ganz verstellt, aber der weite Ausblick macht das wieder gut. Dem geben wir uns nun hin, nachdem wir auf der kleinen Veranda der Bar da Cipolla noch einen freien Platz gefunden haben. Wohin wir auch schauen, wir haben Mühe, unsere Augen wieder loszureißen von diesen Eindrücken.

Dann spazieren wir die Dorfstraße aufwärts und wollen uns nur ein wenig umsehen, aber unsere Füße tragen uns einfach weiter, können nicht stehen bleiben, sodass wir das Dorf unter uns lassen und einfach aufwärts gehen, immer aufwärts, unwiderstehlich angezogen von der Cima del Monte, der höchsten Erhebung hier. Wir tauchen dann ein in ein kleines Plateau, von hohen Schirmpinien beschattet. Erklären kann man die Eindrücke nicht, auch sie zu beschreiben fällt schwer. Im hohen Schatten der mächtig ausladenden Baumkronen wird unser Blick frei auf die Nordwestküste und Rio Marina, das einstmals nur der Hafen von Rio nell’Elba war, bis es dieser Unterordnung überdrüssig am Ende des 19. Jahrhunderts sich lossagte und zur unabhängigen Commune erklärte. Der Wettstreit zwischen den beiden steigerte sich bis zur Feindseligkeit.

Aber das sind „tempi passati“, längst vergangene Zeiten. Die Menschen von unten und die von oben leben heute friedlich neben- und miteinander. Wenn einst der ganze Ort und das ganze Leben hier vom nahen Eisenabbau bestimmt war, hat sich Rio Marina doch zu einer kleinen, ganz charmanten Hafenstadt entwickelt. Touristisches Zentrum ist es aber keines geworden. Wir flanieren zwei Stunden später am Hafen entlang bis hinaus zum Leuchtturm am Ende des Kais. Heute wird hier kein Eisen mehr verschifft, sondern die Fähren bringen und holen Urlauber und Besucher. Am Abend heißer Sommertage, wenn der Wind nach der Hitze des Tages angenehme Kühlung bringt, füllt sich die Strandpromenade mit Leben. Von hier kann man mit der Fähre auch die zehn Quadratkilometer kleine und mehr als zehn Kilometer entfernte Insel Pianosa erreichen – für einen Tagesausflug.

Von einem Blumencorso mit seinen kleinen Blüten in allen nur denkbaren Farben begleitet erreichen wir den Aussichtsturm des Cima del Monte und genießen fünfhundert Meter über dem Meer den rundum freien Blick. Das tiefe Blau des Meeres säumt das satte Grün der Insel. Wir lassen uns von der Stille und Schönheit hier oben lange festhalten, ehe wir wieder hinunterwandern nach Rio nell‘Elba und dann mit dem Auto talauswärts nach Rio Marina fahren.

Tags darauf begeben wir uns in den Westen der Insel, der ganz vom Monte Capanna beherrscht wird, mehr noch, der Monte Capanna ist der Westen der Insel. Von der knapp über tausend Meter hohen „cima“, dem Gipfel, die Abhänge hinunter bis zu den unzähligen Buchten am Meer, das ist der Monte Capanna. Von überall wird immer wieder der Blick frei hinauf zum Gipfel, der fast märchenhaft über den Westen der Insel herrscht. Er thront dort über alles und allem. Die ersten Bewohner hier, wahrscheinlich ligurische Stämme, könnten ihn wohl für den Wohnsitz der Götter gehalten haben, ähnlich dem Olymp der Griechen. Bestimmt war dieser mächtige Berg umrankt von Sagen und Mythen. Mächtig ist durchaus angebracht, wenn man bedenkt, dass der Berg vom Meer wenige Kilometer landeinwärts auf mehr als tausend Meter ansteigt, was einem durchschnittlichen Gefälle von dreißig Prozent entspricht. Ich wollte heute unbedingt mit der Seilbahn, einem Eisenkorb, der schräg nach oben gezogen wird, hinauffahren zu den „Göttern“, dass sie mir den weiten Rundumblick über die Insel und das tyrrhenische Meer gewähren. Ich kenne ihn nur vom Hörensagen. Aber der elbanische Olymp hüllt sich heute in Nebelschwaden, und die „Götter“ würden mir keinen Ausblick gewähren. Außerdem weht starker Wind, sodass eine Fahrt hinauf heute nicht möglich ist.

Dafür verweilen wir im malerisch romantischen Poggio, einem Bergdorf für ein paar hundert Menschen, das sich in einer Lichtung von Esskastanienwäldern ganz an den Berg schmiegt. Man kann die große Abgeschiedenheit hier heroben förmlich einatmen und hinauf- oder hinunterschauen nach Marciana Marina und die vielen Buchten zu beiden Seiten. Streunend erreichen wir das unweite Bergdorf Marciana Alta, umgeben von dichten Wäldern und Strauchvegetation. In den verwinkelten, steilen und überaus gepflegten Gassen und Stiegen entfaltet sich eine wahre Blumenpracht vor den Fenstern und Türen der Häuser. Kaum jemand der fünfhundert Bewohner lässt sich sehen, aber man hat nicht das Gefühl zu stören, wenn man sich der Stille hier herinnen anpasst. Über allem thront der Monte Capanna. Es fällt fast schwer, dieses verzaubernde Bergdorf durch die Porta di Lorena wieder zu verlassen, aber wir wollen doch noch ein bisschen weiter nach oben, zu Fuß.

Wir folgen der Straße Richtung Westen, bis wir die Abzweigung zum Wallfahrtskirchlein Madonna del Monte erreichen. Eine gute Stunde steigen wir über den steilen immer wieder mit großen Steinen ausgelegten und von steinernen Stufen unterbrochenen Weg nach oben, vorbei an den vierzehn Kreuzwegstationen. Der anstrengende Aufstieg wird immer wieder mit betörend schönem Ausblick belohnt. Ab und zu begegnen uns ein paar Wanderer oder „pellegrini“, Wallfahrer, die die völlige Stille und Einsamkeit durchbrechen, bis wir oben angelangt sind, rechtschaffen müde, aber staunend beschenkt. Ein alter, dicker, knorriger, fast verkrüppelter Baumstamm, aus dem nur noch ein paar dünne grüne Zweige wachsen, scheint stummer Zeuge vergangener Zeiten zu sein. Die Einsiedler aus dem 15. Jahrhundert haben keine Spuren hinterlassen, die kleine Kirche – sie steht aus der Sicht der ankommenden Pilger verkehrt da – ist vor mehr als zweihundert Jahren erbaut worden. Wir müssen sie also quasi von der Rückseite betreten. Aus einer steinernen Skulptur sprudelt Quellwasser. Da entdecke ich eine Steintafel, die Napoleons I. gedenkt.

Ich vermag die Inschrift aus dem Jahr 1863 nicht zur Gänze zu entziffern, aber Napoleon, der schwadronierend über Europa hergefallen ist, dürfte für ein paar Wochen hier gehaust haben, ganz vom Zauber dieses Ortes geblendet. Auf einer anderen Tafel in der Kirche erfahre ich, dass Napoleon sich hier mit einer gewissen Maria Walewska getroffen hat, um sich von ihr trösten zu lassen für sein Missgeschick auf den europäischen Schlachtfeldern und der unangemessenen Winzigkeit dieser Insel. Aber was hat Napoleon, der Korse, mit Elba zu tun? Wie kommt er überhaupt hierher? Das fragen sich viele Elbatouristen, von denen viele nicht einmal wissen, dass der todbringende Despot Napoleon Bonaparte, der Schrecken Europas, für zehn Monate Herrscher auf Elba war, weil ihn die europäischen Siegermächte dorthin ins Exil geschickt hatten, um ihn auf politisch möglichst kluge Weise los zu werden. Elba war der Happen, der die Furie in ihm etwas besänftigen sollte. Wenn er für Europa ein tobringender Tyrann war, so brachte seine kurze Regierungszeit auf Elba der Insel Aufschwung, Fortschritte und sogar Höhepunkte. In den Geschichtsbüchern Elbas kommt Napoleon ungleich besser weg als in denen Europas. Auch wenn er von hier hinüberschauen konnte auf seine Heimat Korsika, war ihm die Insel dann doch zu klein, sie konnte sein krankhaftes Verlangen nach Macht nicht befriedigen, sodass er Elba nach zehn Monaten fluchtartig wieder verließ, um nochmals zu versuchen, in höllischer Verlangen seine Schreckensherrschaft über Europa zu errichten, bis er dann endgültig sein Waterloo fand.

Wir schlagen das Geschichtsbuch mit Napoleons Seiten wieder zu und machen uns auf den Weg hinunter nach Marciana Marina, in dem es jetzt Anfang Mai noch ganz still ist. Wir nützen diese Stille und spazieren die lange Uferpromenade entlang. Es ist so still, dass wir sogar die sanften Wellen an den flachen Kieselsteinen verebben hören. Herrlich – Sonne, Meer und völlige Stille, ein Ort zum Träumen bei knapp über zwanzig Grad Celsius. Dann fahren wir weiter, um die westliche Inselhälfte zu umrunden und legen in Sant‘Andrea an einer Strandbar eine Kaffeepause ein. Wir sind überrascht, wie belebt diese liebliche Bucht schon ist, und können erahnen, was sich hier in zwei Monaten tut. Noch haben wir keine Mühe, zuerst über den weißen Sand, dann über Felsklumpen und Klippen zu steigen. Wir befinden uns zwar ganz am Meer, aber spürbar an den Füßen des Monte Capanna, der allgegenwärtig hinter uns alles überragt.

Die Weiterfahrt wird zum Kaleidoskop von vielgestaltigen Buchten, auf die wir über steilabfallendes Gelände hinunterschauen, oft in glasklares, türkis- und smaragdfarbenes bis tief dunkelblaues Wasser. Manchmal müssen wir einfach anhalten, nur um zu schauen, da hinunter ins farbenfrohe Spiel des Sonnenlichtes mit dem Wasser. Chiessi und Pomonte schmiegen sich an den Abhang des Monte Capanna. In Fetovaia zeigt sich eine der schönsten Buchten der Insel, jetzt noch ohne eine Menschenseele. In Marina di Campo tauchen wir in das Getümmel der schon zahlreichen und frühen Touristen ein. Dann queren wir Elba an seiner Wespentaille und kommen gegen Abend wieder an jenem Flecken Erde an, wo Eugenio noch auf seinem Traktor sitzt und in der schon tief stehenden Sonne einen seiner Äcker bestellt.

Eine Woche lang lassen wir uns von der Schönheit der Insel ganz in ihren Bann ziehen. Sir Karl Popper hat einmal gemeint „small is beautiful“, als hätte er an Elba gedacht.

Aber wer sind die Leute, denen wir seit Tagen begegnen? Man nennt sie schlicht Elbaner. Aber sie sind keine eigene ethnische Spezies, sie heißen so, weil sie hier leben. Sie sind ein buntes „Volk“. Viele von ihnen haben zugewanderte Vorfahren oder sind selber vom italienischen Festland zugewandert, vom Norden, vom Süden. Die Trattoria, in der wir gerade zu Tische sitzen, gehört einem Ehepaar aus Mailand, der Koch kommt aus Kalabrien, der Kellner aus Sizilien. Nord und Süd scheinen sich auf Elba besser zu verbinden als auf dem italienischen Festland. Man merkt zwar, woher die Leute kommen, aber es scheint hier keine Rolle zu spielen. Dabei geben die Menschen nicht ihre Wurzeln auf, ein Sizilianer bleibt Sizilianer, ein Mailander ein Mailänder. Einwanderer aus dem Süden bleiben südlicher als Einwanderer aus dem Norden, ein wenig gehen die Uhren hier doch anders. 

Elba war aber immer auch Ziel von Wandernden und Flüchtenden und wurde vielen zur neuen Heimat. In dieser Tatsache spiegelt sich ironisch und anklagend die unmenschliche Haltung des ehemaligen italienischen Außerministers Salvini gegenüber jenen, die Schutz und Zukunft suchend nach Italien kommen. Die Etrusker siedelten sich hier an, um Kupfer und Eisen abzubauen. Vornehme Römer errichteten hier Villen als Sommerresidenz. Die kleine Insel sollte spanische, französische und habsburgische Machtansprüche befriedigen. Und heute wollen hier die Elbaner ihren Traum vom Leben verwirklichen.

Wir haben versucht, ihre Lebensart aufzuspüren. Wir sind dabei nur freundlichen Menschen begegnet, haben kein einziges abweisendes Wort gehört. Es scheint, als lächelten die Menschen auf Elba leichter und schneller als anderswo. Das erste Wort Eugenios bei unserer Ankunft, mit seinen Händen unmissverständlich beteuernd, war herzlich beschwichtigend, dass wir uns Zeit lassen sollen, dass wir zuerst einmal ankommen und das Hiersein genießen sollen, auspacken könnten wir dann später in aller Ruhe. Die Uhren sollen hier anders gehen. Ohne Hektik und Stress das Tagewerk zu verrichten gehört wohl zur elbanischen Lebensart.  Das Leben nicht unnötig schwernehmen, zumindest nicht schwerer, als es ist. Vielleicht kommen die Menschen nicht nur wegen der schönen Buchten und Strände, dem sauberen, oft kristallklaren Wasser, der betörenden Landschaft, der ganz ausgezeichneten Küche hierher… Vielleicht werden sie auch angezogen von dieser Lebensart, die sie selber vermissen.

Land und Leute verschmelzen auf Elba zu einer wohltuenden Symbiose. Elba hat uns gutgetan, die Menschen ebenso wie das Land.

 

© Josef Gredler