28 Es sollte nur ein Spaziergang werden
Heute, es ist ein strahlend schöner Spätsommertag, möchten wir den „Parco Regionale della Maremma“ von innen erleben. Natürlich habe ich schon viel über den „Parco dell’Uccellina“ gelesen, wie dieses Naturreservat umgangssprachlich gerne genannt. Dabei sind unzählige innere Bilder entstanden, die sich heute an der Wirklichkeit messen sollen. Wir sind inzwischen schon in Alberese und stellen unser Auto auf dem riesigen Parkplatz vor dem großen Informationszentrum dieses streng geschützten Naturparks ab. Hier bekommt man die Eintrittskarten, mündliche und jede Menge schriftlicher Informationen. Hier ist auch der Ausgangspunkt für die verschiedenen Wanderrouten, die möglich sind. Gutes Schuhwerk und ausreichend Wasser haben wir auch mit, weil es ja drinnen im Park kein Wasser und keine Verpflegungsstation gibt. Parco ist in diesem Fall nicht die Ankündigung einer gemähten Rasenfläche, gejäteter Blumenbeete und kiesbedeckter Spazierwege. Das bis zum Meer reichende Hügelgebiet ist an der höchsten Stelle über vierhundert Meter hoch, die angebotenen „itinerari“, Wanderwege sind keine bequemen Flanierrouten, sondern fordern durchaus auch ein bestimmtes Maß an körperlicher Kondition. Für die längste Wanderroute benötigt man an die neun Stunden, auch wenn man zuerst von einem Bus in den Naturpark gebracht wird.
Gegenüber dem Informationszentrum befindet sich eine Bar mit reich sortierter Vitrine, in der wir den Tag mit einer „prima colazione“, einem Frühstück nach italienischer Gepflogenheit beginnen, an einem der freien Tische im Freien, und uns auf den Tag einstimmen. Im Informationszentrum, wir möchten gerade die „biglietti“, die Eintrittskarten kaufen, müssen wir von einer freundlichen Dame erfahren, dass der Parco heute leider nicht allein besucht werden kann, sondern nur in geführten Gruppen. Sie muss uns die Enttäuschung vom Gesicht gelesen haben, denn sie versucht sogleich, um Verständnis bittend, uns den Grund zu erklären. Und dieser ist einsichtig. Man hat Angst, dass bei dieser Hitze und Trockenheit durch Unvorsichtigkeit oder Fahrlässigkeit sich leicht ein Brand entzünden könnte. April oder November wären die idealen Monate, den Park zu besuchen. Da bekäme man auch am meisten zu Gesicht. Darüber würden uns natürlich besonders freuen. Wir werden ganz bestimmt zu anderer Jahreszeit wieder kommen.
Aber da wir nun schon einmal hier sind, möchten wir wenigstens die Gelegenheit nützen und an den Sandstrand von Marina di Alberese fahren, um uns dort ordentlich die Füße zu vertreten, einen ausgiebigen Spaziergang zu machen. Dieser befindet sich zwar außerhalb der eintrittspflichtigen Naturparkzone, gehört aber noch zum Naturschutzgebiet. Der Schranken ist offen, wir dürfen also durch, es ist ja noch zeitig am Vormittag. Wenn die begrenzte Zahl von zugelassenen Autos überschritten ist, senkt sich der Balken einfach und verhindert die Einfahrt weiterer Autos. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir unsere Fahrräder mitgenommen. So fahren wir die letzten paar Kilometer zwischen ausladenden Schirmpinien auf der wie mit einem Lineal gezogenen Straße. Ein Parkplatzwächter weist uns auf einen freien Platz ein, im Schatten der hohen Pinien. Ein erfrischender Wind vom Meer her lässt die Wellen deutlich hörbar an den Sandstrand rauschen. Nach diesem ersten Ausschauhalten suchen wir den Weg zur Ombronemündung.
Wir werden bald fündig, wir müssen neben der Straße, auf der wir eben gekommen sind, wieder ein paar Minuten zurückgehen, dann zweigt nach links bzw. Norden die Wanderroute A7 ab, die im allerwörtlichsten Sinn ganz direkt, wie auf dem Reißbrett gezeichnet, zur „Bocca d’Ombrone“, zur Mündung des Ombrone führt, über zwei Kilometer lang. Man sieht immer die ganze Wegstrecke, die genau auf das Mündungsgebiet zusteuert, vor sich, ganz bis zum Ende. Zuerst können wir im Schatten der Baumkronen gehen, dann säumen nur noch typische Macchiasträucher in unregelmäßigen Abständen und für die Maremma typische Gräserarten die schmale asphaltierte Straße. Auffallend, dass die ganze Weglänge frei von jeder Art Müll ist, wenn wir eine weggeworfene Wasserflasche unter einem Wacholderstrauch als wirklich einzige Ausnahme nicht zählen. Alles ist still, kein Lärm, der stört, weil er fremd ist und nicht aus der Landschaft kommt. Man merkt das auch allen Pflanzen und Sträuchern zu beiden Seiten des Weges an, dass sie ihre Ruhe haben. Auch die Eidechse, die vor uns die Straße überquert, hat es nicht so eilig wie ihre Artgenossinnen anderswo. Es scheint, als würde die ganze Natur hier, auch wir selber, besonders tief durchatmen können. Es ist noch früher Vormittag und wir sind ganz allein unterwegs, noch ist niemand da. Weder vor noch hinter uns ist jemand zu sehen. Die kühle Brise vom Meer her tut gut. Zu beiden Seiten schützt ein durchgehender Drahtzaun, in regelmäßigen Abständen an Holzpflöcken festgemacht. Auf einem Schild ist zu lesen „riserva integrale“, die Leute sollen auf dem Weg bleiben. Was hinter dem Drahtzaun ist, davon mögen Besucher sich fernhalten. Zur Linken begleitet uns ein durchgehender Graben, der wohl der Bewässerung dient und in den man bei Bedarf Wasser des Ombrone einleiten kann.
Endlich haben wir die Mündung des Ombrone erreicht, dessen Süßwasser sich behutsam mit dem Salzwasser des Meeres vermischt. Der Ombrone geht fast vorsichtig ins Tyrennische Meer über, und das Meer kommt mit seinen sanften Wellen dem Ombrone in der Mündung entgegen, fließt sogar ein Stück weit in die Mündung hinein, den Ombrone gleichsam abholend. Es ist, als wollten beide einander endlich begegnen, als hätten sie aufeinander gewartet. Kaum hörbar schlagen die Wellen des Meeres – oder sind es die des Ombrone? – ans Ufer. Das ganze Mündungsgebiet ist gänzlich Natur belassen, da hat der Mensch nicht eingegriffen, nicht reguliert oder gar verunstaltet. Frei von menschlichen Zwangsmaßnahmen darf der Ombrone mit seiner Umgebung ganz frei und er selber sein. Das angeschwemmte Holz darf liegen bleiben, stört nichts und niemand. Ein paar Möwen haben sich darauf niedergelassen und genießen es, so völlig ungestört zu sein. Mag sein, dass dieser Ort vielen keine besondere Aufmerksamkeit wert ist, für uns jedoch ein erhebender Augenblick und Anblick. Einfach nur dastehen, hören, schauen, die Zeit kurz anhalten. Wir wollten uns eigentlich nur ein wenig die Füßen vertreten, daraus ist ein tiefes Erleben dieser Naturlandschaft geworden, obwohl nichts Besonderes geschehen ist, aber vielleicht gerade deshalb.
Wir kehren um und gehen wieder Richtung Marina di Alberese, allerdings nicht auf demselben Weg, sondern näher der Küste auf einem aufgeschütteten Damm. Die „Monti dell’Uccellina“ sehen von hier aus wie die Buckel einer Kamelkarawane. Zur Linken, landeinwärts begleiten uns wieder kanalähnliche Gräben, die nur teilweise mit Wasser gefüllt sind. Immer wieder breiten sich innerhalb des Dammes große Wasserlachen, Tümpel aus, die – ich versuche ihr Niveau mit dem Meer zu vergleichen – wohl Grundwassertümpel sein müssen. Auf einmal fällt uns auf, dass unsere Hände sich klebrig anfühlen und leicht salzig schmecken von der feuchten Meeresluft. Der Wind vom Meer her, das kaum zwanzig Meter von uns entfernt ist, ist jetzt etwas stärker und frischer geworden, er hat die Hitze gebrochen. Die Wellen stürzen jetzt lauter und kräftiger ans Ufer. Der Wind bringt auch Bewegung in die Baumkronen, man kann sie sehen und hören, Aber dennoch ist alles hier Teil einer wundersamen Stille. Es gibt Menschen, die noch archetypisch unterscheiden können zwischen den Lauten der Natur, die diese Stille nicht stören, weil sie ein Teil von ihr sind, und dem Lärm, den sie selber oder ihr vermeintlicher Fortschritt machen. Zur Rechten des Dammes, meerseitig, liegt immer wieder zahlreich angeschwemmtes, inzwischen schon ausgebleichtes Holz, das Wanderer, Besucher oft zu phantasievollen Skulpturen und Konstruktionen zusammengefügt haben. Schließlich findet der Rückweg nicht mehr auf dem Damm seine Fortsetzung, sondern wir biegen links ab, entfernen uns etwas von der Küste und nähern uns zwischen Gräsern, Sträuchern und Pinien wieder Marina di Albarese. Das Meer ist jetzt außer Sichtweite, aber wir hören noch die Brandung seiner Wellen.
Nach mehr als drei Stunden, doppelt so lang wie in der Routenbeschreibung angegeben, haben wir unseren Ausgangspunkt wieder erreicht. Aber bei so vielen Eindrücken muss man einfach immer wieder stehen bleiben, um hinzuschauen, hinzuhören oder einfach nur zu fühlen. Mit diesen Eindrücken, die wir mitgenommen haben, nehmen wir nun an einem Tisch vor einer der fahrbaren, bestens ausgestatteten Barbuden mitten im Wald Platz. Inzwischen sind schon zahlreiche Besucher hierhergekommen und der Platz vor den beiden Bars hat sich ziemlich gefüllt. Wir haben Appetit bekommen und eine „insalatina con frutta di mare“, eine Salatschüssel mit Meeresfrüchten bestellt. Das „aqua minerale gasata“ bringt uns der Kellner nicht in der üblichen Plastikflasche, sondern in einer Glasflasche, die er vorher „alla spina“ gefüllt hat. Dieser Ort verpflichtet noch mehr zu solcher Müllvermeidung. Wir essen und trinken und reden über das, was wir in den letzten drei Stunden erlebt haben. Auf einmal, wir trauen unseren Augen kaum, kommt ein Fuchs aus dem Gebüsch und bleibt wenige Meter vor uns einfach sitzen. Ich habe bisher tatsächlich noch nie einen Fuchs in der freien Natur zu Gesicht bekommen, sondern kenne Füchse nur aus Geschichten, Bildern oder Fernsehdokumentationen. Bei uns würde ein solcher Fuchs mit so wenig Scheu vor dem Menschen, dass er sich bis auf wenige Meter nähert, großen Verdacht auf Tollwut wecken und die Jägerschaft und alle dafür zuständigen Behörden in Alarmbereitschaft versetzen. Der Besitzer der Bar klärt mich auf, dass diese Angst unbegründet ist und der Fuchs, an Menschen hier schon gewöhnt, ganz regelmäßig hierher kommt, um von den Essenresten etwas abzubekommen, was seine Jagdleidenschaftlich wohl mildern wird. Eine junge Mutti will ihn mit ein paar Trauben in der Hand locken, doch der Fuchs überwindet den letzten Meter Abstand nicht. Als ihm jedoch ein Streifen frischer „prosciutto“ angeboten wird, kann er nicht widerstehen und schnappt sich diesen unerwarteten Bissen direkt aus menschlicher Hand. Schließlich verschwindet er wieder im Wald, und auch wir verlassen Marina di Alberese auf der Straße, auf der wir gekommen sind. Eigentlich sollte das ja nur ein kleiner Spaziergang werden.
© Josef Gredler