Josef Gredler

26  An heilenden Quellen

 

   Die Erde der Toskana bringt delikate Weine hervor, die Herz und Sinne seiner Bewohner und Gäste erfreuen und in alle Welt verkauft werden. Aus der toskanischen Erde wachsen Millionen von Ölbäumen, die silbernglänzend die Landschaft bedecken und deren Oliven kalt, „extra vergine“ zu feinem Öl gepresst werden, unverzichtbar für jede toskanische Küche, aber auch in jeder Küche leidenschaftlicher Toskanabesucher zu finden, selbst wenn sich diese am anderen Ende der Welt befindet. Aus der toskanischen Erde sprudeln unzählige heiße, mineralhältige Quellen, deren Wasser seit mehr als zweitausend Jahren müden, geplagten oder kranken Menschen wohltuende, heilende Wirkung schenkt. Schon die Etrusker und Römer wussten um die heilsamen Kräfte dieser Quellen. Über die gesamte Toskana sind viele Orte namens „bagno“ und „terme“ verstreut, die den Menschen Wohlbefinden, Erholung, Linderung und manchmal auch Genesung schenken, wenn sie von diesem Wasser trinken oder darin baden und in seinem erholsamen Ambiente Leib und Seele zur Ruhe kommen lassen. Bagno Vignoni im Val d’Orcia ist vielleicht der bezauberndste dieser Orte, Saturnia in der südlichen Maremma mit seinen Cascate del Mulino der urtümlichste und Montecatini Terme der größte und mondänste.    Dort gehen wir gerade durch die Viale Marconi und die Via Manzoni stadteinwärts, bis wir eine weiträumige Parkanlage erreichen, die uns sofort wissen lässt, jetzt sind wir da, jetzt sind wir in Montecatini Terme angekommen. Wie ein riesiger Lungenflügel breitet sich dieser Kurpark mit seinen mächtigen Pinien inmitten der Stadt aus. Der Verkehr muss draußen bleiben, um diese grüne Lunge vor den Abgasen zu verschonen, damit sie richtig atmen kann und mit ihr alle, die hierherkommen. Wir haben jetzt noch nicht Zeit, durch den Park zu flanieren und uns auf einer der Bänke in der Sonne niederzulassen.

   Zielstrebig gehen wir die breite Viale Giuseppe Verdi nordwärts, um mit der ältesten noch im Dienst befindlichen Standseilbahn der Welt nach Montecatini Alto hinaufzufahren, wo alles begonnen hat, was wir hier unten sehen und erleben. Die Bewohner der Stadt nennen die beiden roten Kabinen ihrer Standseilbahn liebevoll Gigio und Gigia, wahrhaft ein betagtes Paar, das es nicht eilig hat, seine Gäste nach oben oder nach unten zu bringen, aber das noch immer mit absoluter Zuverlässigkeit im Halbstundentakt tut. Gemächlich, als hätte sie alle Zeit der Welt, und mit altersbedingten Nebengeräuschen bringt uns Gigia – oder ist es Gigio? – in einer zehnminütigen Fahrt durch den Wald nach oben. Fast dreihundert Meter über der Stadt haben wir nicht nur einen eindrucksvollen Überblick über die Stadt, sondern hätten auch einen weiten Ausblick ins Valdinievole, ins Wolkental, wenn nicht – zufällig oder nicht – Nebelwolken über dem Tal liegen würden. Das unter uns war einstmals unwirtliches Sumpfgebiet, in das viele kleine Flüsse mündeten, über denen fast immer solche Nebelwolken lagen.

   Wie ein Hauch von Schwermut breiten sich auch jetzt über dieses Tal Nebelschwaden, die die Sonne der ersten Frühlingstage nach der nächtlichen Abkühlung erst allmählich auflösen kann. Die abfallende, exakt viereckige Piazza Giusti ist der Lebensmittelpunkt hier oben. Ganz mit Tischen und Sesseln der Cafes übersät, die diesen Platz ringsum säumen, wartet sie auf Gäste, die aber wohl erst in einigen Wochen diesen Platz wirklich füllen werden. Wir erreichen ansteigend über die Via della Rocca den höchsten Punkt mit der Kirche, die der Heiligen Barbara geweiht ist, und dem fast freistehenden Campanile und gelangen von dort über steinerne Stufen zu den Resten der ehemaligen Festung, die im kriegerischen Gezänk zwischen Pisa und Florenz lange Zeit als uneinnehmbar galt. Die Rocca, die Burg ragt mit ihrem Turm weithin sichtbar in den Himmel über diesem Hügel. Appenninwärts schauen wir in die Täler der Umgebung, die sich im Laufe der Jahrtausende oft tief in diese Ausläufer des nördlichen Appennins eingegraben haben.

   Auf Hügeln eben dieser Ausläufer erheben sich in luftiger Höhe stimmungsvolle mittelalterliche „borghi“, deren verzauberndem Charme wir uns gestern überlassen haben: das anmutige Massa, das wir durch die enge „Porta ai Campi“ betreten haben, darüber liegend Cozzile, das eigentlich nur aus einer Dorfstraße besteht, die beidseits von alten Häusern flankiert ist, und vielleicht den schönsten Ausblick auf das Valdinievole ermöglicht, das adrette Buggiano Colle mit der schmalen Piazza Cavour und darunter liegend das befestigte Buggiano Castello. Auf dem aussichtsreichen Rundgang erinnert uns Montecatini Alto immer wieder, zuerst dagewesen zu sein, lange vor der Stadt da unten.

   Wieder unten angelangt, diesmal nicht mit der Bahn, sondern weniger bequem, aber neugierig den schattigen Fußweg der Via Crucis genommen, ist jetzt die richtige Zeit, in den Kurpark einzutauchen, einen über vierzigtausend Quadratmeter großen Lungenflügel, der noch immer fast menschenleer ist. Prunkvolle, berühmte „stabilimenti“, Badeanstalten erwecken unsere Aufmerksamkeit. In ihrem klassizistischen Baustil und Jugendstil sind sie würdige Zeugen einer großen Vergangenheit. Unsere Bewunderung mischt sich alsbald mit einer befremdenden Enttäuschung, als wir feststellen müssen, dass hier noch überall altes Laub herumliegt, das unmöglich von einem Wind der letzten Tage stammen kann, sondern offensichtlich seit dem vergangenen Herbst darauf wartet, eingesammelt zu werden. Ein paar leere Plastikflaschen scheinen auch den Winter hier verbracht zu haben. Ein neugieriger Blick von außen durch schmiedeeiserne Gitter in den mit geschliffenen Marmorplatten ausgelegten Innenhof eines großen Stabilimento, auf dem sich stilvoll klassizistische Säulen erheben, bestätigt diesen Eindruck. Auch wenn die Badeanlagen um diese Jahreszeit noch nicht zum Leben erwacht sind, machen diese Bauten des Klassizismus und der Art Nouveau auf uns einen recht ungepflegten Eindruck. Ein Kinderspielplatz liegt ziemlich verwahrlost danieder. Wir suchen eine Bank in der Sonne und genießen die beginnende Wärme und die erfrischende Luft. Wir „kuren“ sozusagen auf unsere Weise, weil uns ja die ganze Toskana jedes Jahr zur erholsamen Kur, zum „benessere“ für Leib und Seele wird. In zwei Monaten würden wir nicht die Sonne, sondern den Schatten der hohen Pinien suchen, deren weit ausladende Kronen wie riesige Sonnenschirme willkommene Kühlung schenken. Inzwischen sind auch einzelne Besucher in den Park gekommen, die wie wir hier eine erholsame Stunde verbringen wollen. Der Lärm von Kettensägen, mit denen unweit von uns alte, gebrechliche Äste aus den Bäumen geschnitten werden müssen, stört zwar die wundersame Ruhe, aber es tut dieser grünen Oase gut, wenn pflegend Hand an sie gelegt wird.

   Dieser Kurpark mit seinen berühmten Kuranstalten verdankt sein Gesicht mehr oder weniger dem Großherzog der Toskana, Pietro Leopoldo aus dem Hause Habsburg Lothringen, der auch Erzherzog von Österreich und später sogar Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war. Er hat hier Thermalquellen neu fassen und Anstalten errichten lassen. Die berühmte Therme Leopoldine und das Stabilimento Tetuccio wurden von ihm erbaut. Er hat das Gesicht des Valdinievole, inbesondere das von Montecatini Terme verändert und ist damit mitverantwortlich, dass diese Stadt mit ihren Thermen, Badeanstalten, Parkanlagen eine solche Anziehungskraft entfalten konnte, dass sie zu einem berühmten, pulsierenden Treffpunkt mit internationalem Flair aufgestiegen ist. Kur, Wellness, Beauty, Essen, Trinken, Politik, Geschäfte … haben Dichter, Schriftsteller, Komponisten, Musiker, Adelige, Mitglieder von Königshäusern, Stars und Sternchen und unzählige Namenlose angezogen. Giuseppe Verdi war wohl der berühmteste Kurgast dieser Stadt, aber auch Gioachino Rossini, Giacomo Puccini, Enrico Caruso, Beniamino Gilli, Richard Strauß füllen die Liste der Großen, mit deren Namen diese Stadt stolz auf sich aufmerksam macht. Dennoch sieht, hört, spürt man, dass Montecatini Terme den Zenit überschritten hat, der Glanz seiner Vergangenheit nicht unvermindert erhalten geblieben ist.

   So erreichen wir abschließend am südlichen Ende des Kurparks die Piazza del Popolo, die vom Turm der neuzeitlichen Kirche Santa Maria Assunta überragt wird. Auch wenn man über Geschmäcker nicht streiten kann, hat dieser Bau sehr polarisiert, Widerspruch oder Zustimmung hervorgerufen. Das Innere der Kirche schafft eine einladende, warme sakrale Atmosphäre. Mit der Fülle von Eindrücken dieses Tages gehen wir zu guter Letzt in die der Kirche gegenüberliegende Bar, die sich eingedenk des internationalen Flairs dieser Stadt den Namen einer der größten Metropolen der Neuen Welt gegeben hat, und lassen bei einem Glas Montecarlo Bianco die Bilder dieses Tages noch einmal vor unserem inneren Auge vorüberziehen. 

 

© Josef Gredler