24  Irgendwo unter dem Himmel der Toskana

 

   Seit mehr als zehn Jahren schon erkunde ich mit meiner Frau die Toskana in alle Himmelsrichtungen und suche auch jene Winkel auf, die nicht die große Aufmerksamkeit der Touristen spüren oder diesen überhaupt verborgen bleiben. Viele Stunden lese ich in Büchern, die von diesem Landstrich erzählen, und die ausgebreitete Landkarte bedeckt den ganzen Schreibtisch. Sie schaut schon wieder sehr mitgenommen aus, obwohl ich sie erst vor einem Jahr erneuert habe, aber es bleibt ja nie beim bloßen Schauen. Ich muss viele mögliche Ziele, die wir irgendwann ansteuern wollen, nachdem ich davon gelesen oder gehört habe, mit verschiedenen Farben markieren und auch noch die Route, die uns dorthin führen soll. Und so ist meine Landkarte immer übersät mit unzähligen Rufezeichen, Kreisen, Kästchen und Strichen in allen möglichen Farben. Es ist nie Unruhe, die uns durch die Toskana treibt, im Gegenteil. Wir sind nie Getriebene und fühlen uns nie gejagt. Wir fahren auch nicht rastlos umher, sondern jedem Ziel schenke ich meine ganze Aufmerksamkeit,  lasse ihm und mir alle Zeit, dass wir einander näher kommen. Und wenn mich jemand fragen würde, wo ich besonders bewegt worden bin, was mich am tiefsten beeindruckt hat, dann müsste ich entweder viel erzählen oder ganz schweigen.

   Da haben wir jetzt einen Ort, einen „luogo“ gefunden, der auf meiner Landkarte gar nicht zu finden ist. Irgendwo zwischen Florenz und Siena sitzen wir, unerreichbar für den Verkehrslärm der Chiantigiana, abgeschieden in der Sonne und ich schaue einfach in den Himmel, der sich da über uns auftut. Er ist wie ein Planetarium, aber dieses zeigt mir nicht den nächtlichen tuszischen Himmel mit den unzähligen Sternen und Sternbildern, sondern den taghellen Himmel, an deren östlichem Horizont am Morgen die Sonne aufgegangen ist, ansteigend und abfallend wie ein Bogen ihre Bahn über den Mittag zieht, bis sie am Abend im Westen wieder versinken wird. Die weißen Wolken in ihren verschiedensten Formen, Größen und Konstellationen sind darauf wie Kontinente oder große Inseln oder kleine Eilande. Und der blaue Himmel dazwischen ist der große Ozean. Wie eine große Landkarte ist der Himmel über uns, aber nicht aus Papier, sondern wirklich und lebendig. Da kommt eine vielgestaltige Wolke von Florenz und zieht nach Siena weiter oder nach Arezzo oder nach Pisa, je nachdem, welche Kräfte da oben den Lauf der Dinge bestimmen. Eine zweite Wolke, etwas kleiner, scheint dasselbe Ziel zu haben, kommt der großen immer näher und wird dann von dieser verschluckt. Ein schmaler Wolkenfetzen möchte einen anderen Kurs nehmen, löst sich deshalb von der großen Wolke, entfernt sich immer mehr und verschwindet schließlich im himmlischen Ozean. Diese himmlischen Festlande und Eilande  verändern sich ständig. Wenn ich für ein paar Minuten nur die Augen schließe und dann wieder aufschaue, ist die Landkarte nicht wiederzuerkennen. Die Wolke ist weitergezogen und hat dabei ihre Form so verändert, dass ich sie nicht mehr finde. Wolken haben sich getrennt, verbunden, aufgelöst, neu gebildet. Ich könnte Stunden lang so nach oben schauen und dieses Spiel am Himmel beobachten.

   Aber könnte ich das nicht überall? Auch anderswo gibt es Wolken, die am Himmel dahin ziehen, sich trennen,  verbinden, verändern, auflösen, neu entstehen. Was soll hier und jetzt zwischen Florenz und Siena anders sein? Ich merke, ich komme etwas in Bedrängnis mit einer Begründung, warum dieses Schauspiel da oben nicht dasselbe ist wie anderswo. Gleichzeitig muss ich eingestehen, dass ich schon ein wenig befangen bin. Mein ganzes Dasitzen und nach oben Blicken wird von einer verwandelnden Stille getragen. Kein Auto stört diese, aber immer wieder schiebt sich am Himmel ein Flugzeug wie ein kleiner Komet über meine Landkarte, dessen Lärm mich zehntausend Meter unterhalb gerade noch als stetes, leises Brummen erreicht. Nur wenige Meter von mir entfernt plätschert von früh bis spät Wasser in ein Becken, das aber in seiner Gleichmäßigkeit selber Teil dieser Stille geworden ist. Und diese Stille, die mich umgibt, verbindet sich mit dem sonnendurchfluteten Planetarium über mir, stützt es gleichsam von unten. Ab und zu durchdringt ein Vogelschrei diese paradiesische Ruhe, stört sie aber nicht. Wenn aufkommender Wind in die nahen Steineichen fährt, erfüllt ein sanftes Rauschen die Luft. Aber gibt es das nicht auch anderswo? Was ist hier so das Besondere, das Andere – für mich? Dieser himmlische Ozean wird rundum getragen von bewaldeten Hügeln, auf denen das Planetarium ruht. Es wäre müßig, die Einzigartigkeit dieses Fleckens, in der ich gleichsam versinke, zu erklären und die Gründe zu nennen, warum ich hier schaue, höre, fühle wie sonst nirgendwo. Alles, was mich die Toskana erleben hat lassen, jede Erinnerung sammelt sich wie in einem Brennpunkt und schaut jetzt mit mir hinauf.

   Dabei bin ich trotz aller Leidenschaft für die Toskana kein Toskanaromantiker mit diesem verklärenden Blick geworden, der sich von jedweder Realität losgesagt hat. Nein, ich weiß, was sich hier abgespielt hat, genau hier, wo ich sitze. Ich weiß von Streit, Fehde und Krieg zwischen Florenz und Siena, den beiden über lange Wegstrecken der Geschichte so verfeindeten Städten, auf deren Verbindungslinie ich irgendwo diese Zeilen schreibe. Jeder Hügel musste sich entscheiden, auf welcher Seite er steht, oder er hatte diese Wahl gar nicht, weil er schon eingenommen worden und fortan seinem Eroberer verpflichtet war. Wie viel Unheil mag gerade hier, wo ich sitze, passiert sein, wenn es darum ging, die andere Stadt, die man nur mehr mit feindseligen Augen betrachtete, zu demütigen und in die Knie zu zwingen? Auch die Geschichte der Toskana durchzieht eine Spur von Vormachtstreben, Unterwerfung und Krieg. Eine Stadt war gegen die andere oder zwei Städte waren zusammen gegen eine dritte. Deshalb haben die Menschen in diesen Städten sich mit Mauern umgeben. Auch in der  Geschichte der Toskana sind viele Seiten mit Blut geschrieben. Ich muss gerade an Monteriggioni denken, das unweit von hier auf einem Hügel thront, ganz eingeschlossen von einer Mauer, die heute nur mehr dem pittoresken Anblick dient, einstmals aber lebensnotwendig war, damit die Menschen hinter diesen Mauern sicher sein konnten, es zumindest glaubten. Dass heute diese Mauern den toskanischen Altstädten einen besonderen Liebreiz und Charme verleihen, darf nicht vergessen lassen, warum und wozu sie errichtet worden sind. Wenn man aufmerksam beobachtet und zuhört, kann man diese Vergangenheit heute noch spüren, als hätte sie sich archetypisch im Unterbewusstsein der Menschen festgemacht. Kurzum, die Geschichte der Toskana war nicht friedlicher oder besser als anderswo, das gilt auch für ihre Menschen – immer noch.

   Eine lästige Fliege, die mich zum Objekt ihrer Begierde erkoren hat und umschwirrt, stört jetzt die Gedanken und das Erleben dieser Stunde. So mag wohl einige Zeit verstrichen sein. Der Stand der Sonne, ihr schon flach einfallendes Licht – Uhr habe ich absichtlich keine bei mir – erinnert mich, dass es Zeit ist. Noch ein paar tiefe, entspannende Atemzüge, als wollte ich mir die vergangenen Stunden einverleiben, dann werden auch diese zur Erinnerung, die mich auf unseren Streifzügen begleitet.

 

© Josef Gredler