Josef Gredler

23  Ein Kloster in einem „schattigen Tal"

 

   In meiner Toskanakarte ist Vallombrosa dick unterstrichen und steht schon lange geduldig, ohne sich vorzudrängen, in der Warteschlange der ausgewählten Ziele. Mein unverzichtbares Navigationsgerät zeigt mir, von Greve kommend, gerade mal zwanzig Kilometer Entfernung an, Luftlinie. Bei uns zu Hause ist das bequem in zwanzig Minuten zu schaffen, aber hier in der Toskana gelten andere Gesetze. Aus zwanzig Kilometer Luftlinie werden fast vierzig Kilometer Straße und die verläuft dann oft so, dass man dafür eine Stunde braucht. Auch uns scheint auf unseren toskanischen Streifzügen nicht immer die Sonne, seit dem frühen Morgen ist der Himmel mit tief stehenden Wolken bedeckt, aus denen es jetzt zu regnen begonnen hat. Wir überqueren bei Figline den Arno, der hier noch ein bescheidenes Rinnsal ist.

   Er muss noch das ganze nach ihm benannte Valdarno durchfließen, um dann würdig zu sein, dass Dichter und Geschichtsschreiber ihn in einem Atemzug mit Florenz, der „Blühenden“ nennen, wenn sie von der „Stadt am Arno“ schreiben. Er fließt sehr träge, was aber nicht verwundert, denn er hat noch über hundert Kilometer vor sich, um bei Pisa das ligurische Meer zu erreichen, aber dafür hat er nur noch hundert Meter Höhenunterschied zur Verfügung, weshalb man ihm sein zaghaftes Dahintümpeln schon nachsehen muss. Wir gewinnen immer mehr an Höhe, es geht aufwärts, denn wir nähern uns dem nördlichen Gebirgsrücken des Pratomagno. Hügel darf man ihn nicht nennen, denn seine höchsten Erhebungen sind über tausendfünfhundert Meter hoch. Wir haben uns längst an den mäandrierenden Straßenverlauf in der Toskana gewöhnt und schon deshalb genug Zeit eingeplant. Eilig haben wir es nicht. Wir haben nur noch wenige Kilometer vor uns, da beginnen sich die Baumkronen der dicht stehenden Steineichen oder Buchen immer öfter über der Straße zu schließen.

   „Vallombrosa“ heißt schattiges Tal, „nomen est omen" sagt der Lateiner, und tatsächlich wird es nicht nur schattig, sondern an einem Regentag wie heute stellenweise fast dunkel, sodass ich beim Auto das Licht einschalten muss. Über dem ganzen „Tal“ liegt eine fast schwermütige Stimmung, die ihm eine besondere Poesie verleiht. Es kommt uns kein Auto entgegen, als wären wir die einzigen, die sich heute durch diese Straße da heraufzwängen. Mit dem Wort „valle“, Tal, muss ich dem Namensgeber allerdings ein wenig widersprechen. Von einem Tal kann hier nicht mehr die Rede sein, wir befinden uns mittlerweile schon auf tausend Meter Höhe und „Montombroso“, schattiger Berg, wäre zutreffender. Würde ich erst hier meine Augen öffnen können, ich käme nicht auf die Idee, in der Toskana zu sein. Dieses Gesicht hat sie mir noch nie gezeigt.

   Plötzlich steht in einer Waldlichtung zur Rechten die mächtige Anlage der „abbazia“, der Abtei da. Man wird bei ihrem Anblick zwangsläufig an eine „fortezza“, Festung erinnert und tatsächlich schließt der westseitige, auffallende Turm  der Anlage mit Zinnen ab, wie man sie sonst nur bei Wehranlagen sieht. Den „campanile“ auf der östlichen Flanke der Abtei, der mit seinen Glocken ja eine ganz andere Aufgabe hat, entdecken wir erst später. Von einem Mönch, der gerade aus dem „museo dell’abbazia“ kommt, erfahre ich, dass dieses wehrhafte Aussehen einen triftigen Grund hat: 1529 haben die Truppen von Karl V. Vallombrosa belagert und geplündert, und das wird nicht die einzige Bedrohung gewesen sein, vor der sich diese Abtei schützen musste. Wir sind ein wenig sprachlos, gehen bald dahin, bald dorthin, um erst einmal die Dimension dieses Klosters auszumachen. Wo ein Kloster ist, da muss auch eine Kirche sein.  Wir suchen den Eingang und müssen drei große Tore bzw. Torbögen durchschreiten, bis wir über ein paar steinernen Stufen im Portikus vor der Kirchtüre stehen. Im Inneren der Klosterkirche dominieren romanische Bau- und Stilelemente. Dem „fondatore“, dem Gründer dieses Klosters haben die Mönche eine eigene Kapelle geweiht, ihn haben sie sicher immer wieder um seine Fürsprache gebeten, aber sie haben ihn nie angebetet. Bei aller Heiligkeit war er ihnen doch nur Mensch. Ort göttlicher Anbetung war die gegenüberliegende Sakramentskapelle, die „capella del Santissimo Sacramento“. Wir begegnen im ganzen Klosterkomplex immer wieder dem Leben jenes Fiorentiners, der den Orden der Vallambrosaner gegründet hat, deren Mönche hier nach der Regel des Heiligen Benedikt gelebt haben und es immer noch tun.

   Ein wohlhabender fiorentinischer Adeliger namens Giovanni Gualberto fand in seinem Leben nicht mehr den Sinn, den er suchte, und sagte sich von seinem Reichtum los, verzichtete auf Besitz und Adel, ließ sich als Einsiedler in diesem Wald nieder und baute hier mit zwei Mönchen, die auf ihrer Suche nach mehr sich ihm angeschlossen hatten, alsbald eine Kapelle. Im Laufe der Jahrhunderte wurde daraus diese große und mächtige Klosteranlage, die nicht nur Blütezeit, sondern auch Verfall erfuhr, Niedergang und Neubeginn erlebte. Fast genau hundert Jahre nach der Säkularisierung von 1866 zogen hier aber wieder Mönche ein und gaben dieser Anlage ihre ursprüngliche Bestimmung zurück. Hinter dem Altar befindet sich der große Chorraum mit dem schönen, alten Chorgestühl. Ein Chorraum ist die spirituelle Mitte klösterlichen Lebens. Hier haben sich die Mönche täglich mehrmals versammelt, singend, betend, meditierend. Nach der Anzahl der Plätze im Chorgestühl muss es eine stattliche Anzahl von Mönchen gewesen sein. Heute müssen die meisten Plätze leer bleiben, weil die Mönche das Chorgestühl nur mehr zu einem geringen Teil füllen können. Auch Gäste und Besucher sind zum Chorgebet eingeladen. Was muss damals in Giovanni Gualberto vorgegangen sein? War es ein zähes, ein schweres Ringen? Wie haben seine Angehörigen und Freunde reagiert? Wie hat er das gemacht?

   Franziskus hat hundertsechzig Jahre später hundertsechzig Kilometer südlich von hier auf dem Markplatz von Assisi die Kleider seines reichen Vaters einfach ausgezogen und zurückgelassen, um in einer braunen, armseligen Kutte seinem Leben ein neues Ziel zu geben. Hat Gualberto gefunden, was er gesucht hat? War es ein erfülltes Leben? Dass er schon zwei Jahrzehnte nach seinem Tod heiliggesprochen wurde, deute ich als Hinweis, dass von ihm eine große Ausstrahlung ausgegangen sein muss. Dieses Zurücklassen von irdischem Reichtum als Schlüssel zu einem ganz neuen, nicht materiellen Reichtum, öffnete ihm ein neues Leben. Was würde Gualberto wohl sagen, wenn er jetzt so wie ich diese Klosteranlage sehen würde? Sie ist heute gemessen an der Zahl der Mönche natürlich viel zu groß. Aber die Mönche haben ihre Abtei für die Menschen außerhalb des Klosters geöffnet und bieten Bibelkurse an, Kurse für Spiritualität, Tage der Exerzitien… Hier kann man auch die Kunst – es muss ja nicht immer perfekt sein – der gregorianische Gesänge erlernen.

   Die Abtei ist ihrer Bestimmung in keiner Weise untreu geworden, im Gegenteil. Die Mönche können mit ihren Zellen das große Kloster nicht mehr füllen. So sind aus ehemaligen Zellen der Mönche komfortable Gästezimmer für jene geworden, die hierherkommen, damit ihre Seele Atem holen kann. Auch die schönen Künste werden hier gefördert. Im Sommer finden hier Orgelkonzerte und Ausstellungen statt. Die Mönche geben diesem Ort eine neue Bedeutung und Anziehungskraft, erwecken ihn wieder zum Leben – auf dem Hintergrund der Lebenswende dieses reichen Adeligen aus Florenz, der jedem Besucher von Vallombrosa Anregung und Herausforderung sein soll.

   Im Wald, der das Kloster von allen Seiten umgibt und dessen Schutzpatron Gualberto ist, lässt sich schnell in die Einsamkeit und Stille eintauchen. Das tun wir jetzt, wenn wir auf Wegen und Unwegen den Wald im wahrsten Sinn durchforsten und dabei die Abgeschiedenheit dieses Ortes einatmen. So ruhig wie heute wird es aber nicht immer sein, denn die vielen Parkplätze um das Kloster sind ein sicherer Hinweis, dass an manchen Tagen viele Menschen nach Vallombrosa kommen, der Anziehungskraft dieses Ortes folgend. Es hat inzwischen aufgehört zu regnen und trotzdem begegnen wir im weitläufigen Gelände des umliegenden Waldes keiner Menschenseele. Diese Stille, die nichts und niemand stört, ist wohltuend auch für unsere Seele, die sich dem Lärm der Zeit doch nicht ganz entziehen kann. Hier ist gut sein, wenn man Ruhe braucht und sucht. Gualberto wird gewusst haben, warum er gerade diesen Ort ausgewählt hat.

   Wir gehen noch einmal in den Innenhof der Abtei,  links vom Haupteingang lesen wir über einem Torbogen „Antica Farmacia“. Dahinter befindet sich aber keine antike Apotheke, sondern in vielen alten Holzschränken und -vitrinen, die wirklich den Eindruck einer mittelalterlichen Apotheke erwecken, bieten die Mönche  vieles an,  was dem Wohlbefinden und der Schönheit des Körpers, der Gesundheit und der Freude am Leben dienen soll, Schokoladen, Bonbons, Honig, Marmeladen, auch Öl und Wein, Liköre und Kosmetika wie Seifen und Cremen, das meiste wohl aus eigener Produktion. Alles, was man hier bekommt, hat etwas Besonderes an sich und lässt sich nicht verwechseln mit den Produkten der Supermärkte und Geschäfte außerhalb des Klosters. Man möchte glauben, dass ihre Herstellung auch von der Spiritualität dieses Ortes begleitet war Der Herr hinter der Theke trägt zwar keinen Habit, gehört aber sicher zur Klostergemeinschaft. Jedenfalls bedient er uns mit ausnehmender Freundlichkeit, immer bereit, unsere neugierigen Fragen ausführlich und gerne zu beantworten.

   Wir wollen noch auf den über tausendvierhundert Meter hohen Monte Secchiato hinauf, an dessen Fuß die Geschichte von Vallombrosa vor mehr als tausend Jahren  begonnen hat. Gibt der Monte Secchiato auch Antwort auf die Frage, warum Gualberto und die beiden Mönche sich gerade für seinen Abhang entschieden haben? Weil aber der Nebel so dicht wird, dass ein sicheres Weiterkommen nicht mehr möglich ist und wir die zahlreichen und riesigen Schlaglöcher der asphaltierten Straße kaum mehr sehen, müssen wir diesen Weg mit großem Bedauern abbrechen und die Antwort auf unsere Frage verschieben.

 

© Josef Gredler