Josef Gredler

14  Zu Füßen eines Raubritters

 

    Früh am Morgen verlassen wir unser Urlaubsdomizil und fahren Richtung Südosten nach Radicofani. Es ist nicht gleich das erste Ziel der zahllosen Toskanabesucher, aber irgendwann stößt jeder, der sich auf die Toskana einlässt, auf dieses kleine Städtchen in der Nähe des Monte Amiata. Man hat Bilder, Prospekte, Ansichtskarten gesehen, man hat davon gehört und gelesen und ist neugierig geworden. So führt auch uns die wachsende Neugier dorthin. Schon von weitem erkennen wir diese uns vertraute Ansicht wieder. Das muss Radicofani sein, dieses Bild hat sich eingeprägt. Wie auf einem erhöhten Plateau, einem Felsen aus Basalt, thront weithin sichtbar eine mächtig in den Himmel ragende „rocca“ über dieser kleinen Stadt an der Via Francigena mit ihren kaum mehr als tausend Bewohnern, der alten Route der Pilger nach Rom, in die Heilige Stadt. Wachsam schaut sie wie eine respekteinflößende Beschützerin auf Radicofani herunter, das sich da zu ihren Füßen fast untertänig hingebettet hat und sich im Schutz der Festung sicher weiß. Diese mit Zinnen gekrönte „rocca“ ist zu einem Wahrzeichen der Südtoskana geworden, schon von weitem allen sichtbar, die sich ihr nähern. Päpste haben an ihr gebaut, Kaiser haben Hand an sie gelegt, auch den reichen Medicis ist sie zu Dank verpflichtet, Mönche haben sie bewohnt, Päpste sie besessen. Sie war auch Eigentum der Provinz Siena. Ein Jahrtausend schon steht sie da oben, fast neunhundert Meter über dem Meeresspiegel an einer einstmals wichtigen strategischen Position und erfüllt stumm ihre Bestimmung, die heute nicht mehr dieselbe ist wie damals. Ihre Geschichte liest sich wie die vieler andere Befestigungsanlagen. Sie hat alles erlebt, was Festungen im Laufe ihrer Zeit erleben:  Sieg und Niederlage, Zerstörung und Wiederaufbau, Krieg und Frieden, Entbehrung und üppige Gelage, Wertschätzung und Bedeutungslosigkeit, immer Spielball in der Hand der Mächtigen. Sie kann auf über tausend Jahre zurückblicken, hat unzählige Rompilger friedlich vorbeiziehen sehen, aber auch bewaffnete Kämpfer abwehren müssen, die sich ihrer bemächtigen wollten. Nicht immer konnte sie den Angriffen standhalten.

    Wie viele toskanische Altstädte betreten wir auch Radicofani durch ein Tor oder einen Torbogen, die Porta Romana, die uns unmittelbar in die Hauptstraße führt, die aber nicht für Autos angelegt worden ist, auch wenn sie jetzt unvermeidbar auch diese über ihr Kopfsteinpflaster rollen lässt, um den Bewohnern den automobilen Zugang zu ihrem Haus, zu ihrer Haustür zu ermöglichen. Wir gehen langsamen Schrittes, aufmerksam Ausschau haltend, alle sich bietenden Eindrücke aufsaugend diese Hauptstraße entlang, die zuerst Via Roma heißt, dann den Namen wechselt, aber keinen Zweifel zulässt, Radicofanis Aorta zu sein. Ein paar Mal weitet sich die Straße zu einer kleinen Piazza, weil die Menschen ja auch Platz brauchen zur Begegnung und zum Verweilen. Durch diese Straße läuft man nicht einfach, zudem steigt sie stetig an, als ob sie höher hinaus wollte. Sie ist die Lebensschlagader von Radicofani und bietet mit den von ihr abzweigenden Straßen ein erstaunliches Angebot, was die Menschen dieses Städtchens und seine Besucher brauchen oder ihre Lebensfreude erhöht: Vinothek, Obstgeschäft, Friseur, Pediküre, Massage, Solarium, Modeboutique, „pani e dolci“, Bank, „prodotti tipici“, noch eine Bank, öffentliche Toilette, „polizia“, „farmacia“, Ambulatorium, Ballspielplatz, Immobilien.. Wir sind überrascht, aber wir sind nicht deshalb hierhergekommen. Wir möchten diesem kleinen Ort schon etwas tiefer in die Seele schauen. Es ist uns eine liebe, fast selbstverständliche Gepflogenheit geworden, an einer Kirche unterwegs nicht einfach vorüberzugehen, sondern unsere Erkundung zu unterbrechen und eine Zeit andächtiger Stille zu halten. Das tun wir auch jetzt, wenn wir zwischen den Steinhäusern, die in Reihen angeordnet sind, auf der kleinen Piazza San Pietro die gleichnamige romanische Kirche San Pietro betreten, die von außen nicht gerade anziehend erscheint, fast in einer gewissen architektonischen Unbeholfenheit da steht. Aber ihr Inneres gibt uns Raum, dass wir das Hier und Jetzt überschreiten und hinter uns lassen. Fast gegenüber befindet sich eine zweite Kirche, die der Sant’Agata geweiht ist, der Schutzpatronin der Stadt, jetzt allerdings verschlossen ist. Obwohl der Morgen an diesem schönen Märztag schon fortgeschritten ist, sehen wir vorerst keine Menschenseele. Wir haben die Straße ganz für uns. Nur eine betagt scheinende Katze überquert ohne Eile die „piazza“ und legt sich dann vor ihre Haustüre, um die Strahlen der milden Frühlingssonne zu genießen. Sie nimmt von uns keine Notiz. Es ist, als hätte Radicofani irgendwann vor vielen Jahren erfolgreich die Zeit angehalten. Immer wieder taucht über den Dächern die Rocca auf, deren Turm gleichsam auf uns herunterschaut. Immer wieder wird der Blick frei hinauf zu ihr, die hier allgegenwärtig ist. Dort hinauf soll uns heute der Weg führen. Wir verlassen uns dazu ganz auf unser Gespür, gehen einfach der Nase nach und bergauf. Und die Wegweiser bestätigen uns im Nachhinein, dass unser Spürsinn uns nicht getäuscht hat. Am Ende der Hauptstraße folgen wir rechts dem steil ansteigenden Schotterweg, wir wollen die asphaltierte Straße meiden. Auch vor dem Friedhof nehmen wir lieber den ausgetretenen Weg durch den Wald, bis wir dann doch die asphaltierte Straße erreichen und nach ein paar Kehren durch ein offenes hohes Eisengatter die Rocca erreicht haben. Für bescheidene drei Euro bekommen wir Einlass in das Innere der ehemaligen Befestigungsanlage, die heute ein Museum beherbergt, auch wenn sie noch ganz die Züge einer wehrhaften Fortezza hat. Der mit Gras bewachsene Innenhof würde fast zu einem Picknick einladen oder Kindern als Spielplatz dienen können. Fünf ausladende Bastionen und der mächtige Turm erinnern wieder an die ursprüngliche Bestimmung. Die Gänge der Fortezza lassen etwas von der vergangenen Unheimlichkeit erahnen. Die mächtige Wehranlage hier oben und das kleine Radicofani unten widersprechen sich fast. Der betörende Ausblick von hier oben – die Horizontlinie schiebt sich weit nach hinten – dient heute nur noch dem Staunen, hatte einstmals aber ausschließlich strategische Bedeutung. Hofanlage um Hofanlage, immer etwas höher nähern wir uns dem Eingang zum Turm. Über eine kleine Holzbrücke gelangen wir ins Innere und Treppen an der Innenseite führen uns an Vitrinen, Schautafeln und Informationen vorbei hinauf zur höchsten Plattform, zwischen deren Zinnen sich uns ein Ausblick in die Toskana nach allen Seiten auftut, der uns fast eine Stunde nicht mehr loslässt.

    Im Spiel der Mächtigen musste die Rocca den unterschiedlichsten Besitzern hörig sein. Der ungewöhnlichste unter ihnen war ein gewisser Ghino di Tacco, ein berüchtigter Raubritter, der sich, wenn auch nur für ein paar Jahre, der Rocca bemächtigte und sie zu seiner Residenz machte, obwohl sie ihm nie rechtens gehörte. Vor über siebenhundert Jahren bildete er mit seinem Vater, dem Onkel und seinem Bruder eine gefürchtete Räuberbande, die die ganze Gegend unsicher machte und Angst und Schrecken verbreitete. Während Vater und Onkel für ihre Raubüberfälle in Siena mit dem Tode bestraft wurden, kamen er und sein Bruder in Anbetracht ihrer Minderjährigkeit mit dem Leben davon. Ghino di Tacco flüchtete hierher nach Radicofani, machte die Rocca zu seiner Bleibe und unternahm von dort seine Raubüberfälle auf Pilger der Via Francigena. Aber er wandelte sich vom skrupellosen Räuber zu einem quasi Gentleman-Gauner mit sozialkritischem Einschlag, einem italienischen Robin Hood. Er beraubte nur noch die Wohlhabenden, aber nie ihrer ganzen Habe, sondern ließ ihnen das, was sie zum Leben brauchten. Wer selber nichts hatte, blieb von seinen Überfällen nicht nur verschont, sondern soll gelegentlich sogar eine stärkende Mahlzeit mit auf den Weg bekommen haben. Aus Ghino di Tacco wurde eine heldenhafte Gestalt, in der Geschichte, Legende und Mystifikation sich vermischen. Mit einer großen Skulptur aus Stein und ein nach ihm benannten Piazza erweisen ihm die Bewohner Radicofanis heute noch ihre Referenz. Bocaccio würdigte ihn in seinem Decamerone und Dante ließ ihn in seine Divina Comedia eingehen. Den Menschen zu Füßen der Rocca ist Ghino di Tacco mehr vertraut und näher als die wirklich großen und mächtigen „Burgherren“. Aber diese Zeiten sind längst vergangen, „tempi passati“, wie die Leute unten in der Stadt sagen. Schon lange ist die Rocca von Radicofani  aller kämpferischen Aufgaben entbunden, aber die Häuser, von dort oben betrachtet, scheinen heute noch wie eine Schar Küken eng zusammenzurücken unter dem Schutz der Festung über ihnen. Heute muss die Rocca nur noch da sein, sich zeigen, Besucher empfangen. Heute ist sie eine unverzichtbare Impression in der toskanischen Landschaft. Man muss nicht Gewalt anlegen, um einzutreten, es genügt, eine Eintrittskarte zu lösen. Allein der unvergleichliche Ausblick ist das Eintrittsgeld vielfach wert. Die „fortezza“ könnte auch einmal für Theater, Konzerte, Ausstellungen genutzt werden. Ob Ghino Verständnis für die schönen Künste hätte, weiß ich nicht, aber der anhaltende Ruhm seiner Fortezza würde ihn sicher freuen.

    Die Sonne nähert sich ihrem Zenit und erwärmt dieses Plateau schon recht ergiebig. Wir müssen von den höchsten Zinnen wieder hinunter, gehen die Hauptstraße jetzt abfallend wieder zurück und verlassen die Via Roma durch die Porta. Unmittelbar nach der Porta Romana lesen wir zur Linken über dem Eingang einer kleinen Bar den klangvollen Namen „La Stella“. Wir wollen heute Radicofani ja etwas tiefer in die Seele schauen. Diese Bar soll uns noch einen letzten tiefen Blick erlauben und außerdem ist uns jetzt, vom Rundgang mit seinen vielen Eindrücken doch schon ein bisschen müde, wirklich nach Niedersitzen und einer kleinen Stärkung zumute. La Stella ist zur rechten Zeit gerade am rechten Fleck, keine große Bar, nicht größer als unser Wohnzimmer zu Hause, fügt sich nahtlos in den historischen, reizvollen Charme des Städtchens ein. Es wäre vermessen, hier ein Mittageessen zu erwarten, aber eine kleine Stärkung ist uns ebenso willkommen wie die originäre Atmosphäre. Einfach in der Ausstattung, aber doch alles vorhanden, was so eine Bar unbedingt braucht. Drei einfache Tische, eine Vitrine, deren Auswahl auch der Größe dieses Ortes angepasst ist. Auffallend die große Kaffeemaschine, das Herz jeder Bar und fast zu groß für diese. Eine Bar mit großem Herz also. Zahlreiche Weinflaschen in einfachen Holzregalen verraten, La Stella ist auch eine kleine „enoteca“, eine Vinothek. Die vier Besucher, die wir hier vorfinden, sind vermutlich Stammgäste. Das entnehmen wir ihrer angeregten Unterhaltung, die sie in einer Lautstärke führen, als wären sie alleine, jedenfalls sind wir für sie – mit Recht – kein ausreichender Grund, leiser zu reden. Sie haben eine Menge belangloser Neuigkeiten auszutauschen, die ich ihrem schnell gesprochenen toskanisch gefärbten Italienisch aber nur bruchstückhaft entnehmen kann. Da kommen zwei Carabinieri herein. Die Leute im Lokal kennen die beiden offensichtlich und die Carabinieri kennen die Leute, wie man den paar nicht dienstlichen Worten, die sie miteinander wechseln, unschwer entnehmen kann. Sie haben auf ihrem Dienstgang nur eine kleine Espressopause eingelegt. Kein Platz würde sich dafür besser eignen als La Stella. Hier herinnen kennt jeder jeden, meine Frau und ich natürlich ausgenommen. Der etwas ältere Herr hinter der Theke, gepflegt vom Scheitel bis zur Sohle, nimmt freundlich unsere Bestellung entgegen. Seine Freundlichkeit bewahrt aber eine gewisse Distanz und ist von einem natürlichen toskanischen Stolz. Er ist gewiss der Besitzer, man merkt ihm bei jeder Bewegung, bei jedem Handgriff, bei jedem Wort an, es ist seine Bar. Ein Jahr später erfahre ich von ihm, dass die Bar seiner Frau gehört und nach deren „nonna“, Großmutter „La Stella“ benannt ist. Wir sind vielleicht die ersten Touristen, die heute oder vielleicht sogar heuer in seine Bar kommen, aber er macht dennoch nicht viel Aufhebens darum. Er hofiert uns nicht, aber wir sind willkommen, obwohl er unsertwegen seine Beteiligung am Gespräch unterbrechen muss. Als wir gehen, spüren wir, La Stella hat uns in seinem toskanischen Charme ermöglicht, diesem Radicofani noch etwas tiefer in die Seele zu schauen.

 

© Josef Gredler