Josef Gredler

Krippe ohne Jesuskind

 

   Das jährliche Aufstellen der Krippe in den letzten Adventtagen wird ihm, Herrn Simon, immer zu einem beschaulichen inneren Betrachten und Sinnieren über das Geschehen, das Lukas auf den ersten Seiten seines Evangeliums so berührend erzählt. Manchmal vergisst er darüber sich und alles Rundherum und verliert sich ganz in der Welt des heiligen Geschehens, das er in seiner Krippe mit großer Hingebung darzustellen versucht. In jede einzelne der aus Holz geschnitzten Figuren denkt und fühlt er sich hinein. Daraus werden dann oft innige imaginäre Zwiegespräche mit sich selber. Wenn er dann am Heiligen Abend vor der Krippe steht, die ihm in den letzten Tagen so ganz zu Kopf gestiegen und zu Herzen gegangen ist, dann überkommt ihn tiefe, stille Freude über das große Geheimnis der Menschwerdung Gottes in einem Kind und er wird erfasst von einer Strömung des Erlöst-Seins, dessen Anbeginn in seiner Krippe dargestellt ist, soweit sich dieses alles menschliche Begreifen übersteigende Geheimnis überhaupt darstellen lässt. Es ist ja nur der Versuch oder besser die Sehnsucht, das anzudeuten und im wahrsten Sinn des Wortes vor Augen zu führen, was wir Christen glauben, wenn wir in diesem Kind in der Krippe den Erlöser der Welt erkennen. Und sein Blick verweilt wieder lang bei diesem Kind. Nicht weil sein Anblick so herzergreifend ist, so lieblich, wie wir in weihnachtlichen Liedern singen, sondern weil dieses Kind die Geschichte der Welt umgeschrieben hat, die Vorzeichen der Melodie der Schöpfung geändert, die Koordinaten der Menschheit neu bestimmt hat. Wenn man das ganze Weltgeschehen wie einen Film betrachtet, dann ist dieses Kind der Grund dafür, dass am Ende alles gut wird. Der Film endet nicht wie eine große Tragödie, auch wenn man das manchmal glauben möchte oder müsste, der Film hat ein Happyend. Und sein Blick scheint seltsam das Holz zu durchdringen und ein Kind zu schauen, das nicht von dieser Welt ist.

   Da kommt ihm auf einmal ein Gedanke, der ihn erschrecken lässt. Was wäre, wenn die Krippe leer bliebe, das Jesuskind nicht, nicht mehr bereit wäre, sich in diese Krippe legen zu lassen – nachdem es weiß, wie es ihm ergangen ist? Noch nie hat er seine Krippe aufgerichtet ohne dieses Kind. Eine Krippe ohne Kind, undenkbar, sinnlos, eine Torheit. Alles bekommt Sinn und Bedeutung nur von diesem Kind, in seiner Krippe kleiner als sein kleiner Finger. Aber was wäre, wenn die Krippe tatsächlich leer wäre, leer bliebe? Wenn Jesus nicht – mehr – bereit wäre, diesen Platz einzunehmen, den er ihm „alle Jahre wieder“ in seiner Weihnachtskrippe zuweist? Und er sucht nach Antworten, seinen Gedanken freien Lauf lassend. Und er erschrickt, er findet eine Reihe von Gründen, warum das Jesuskind nicht mehr bereit sein könnte, uns aus der Krippe lieblich entgegenzulächeln. Und er glaubt, das Jesuskind sagen zu hören…

   Die Menschen lieben mich nur, wenn ich aus Holz bin oder aus Ton oder Wachs, lieblich anzusehen. In der Weihnachtskrippe bin ich unentbehrlich, aber darüber hinaus haben sie kaum Interesse an mir, an meiner Botschaft, an meiner Sendung, für die ich in die Welt gekommen bin. Sie sollen in mir den lebendigen Sohn des lebendigen Gottes erkennen, Mensch geworden, um das Reich Gottes beginnen zu lassen, die Welt, die Menschen zu retten vor der Verfallenheit an die Macht des Bösen, zu befreien von den Fesseln der Sünde. Mit jedem Weihnachten sollte sich das Antlitz der Welt ein wenig verändern, das Reich Gottes ein wenig näherkommen. Aber heute scheint dieses weiter entfernt denn je.

   Die Menschen haben mein Kommen nicht erkannt. Sie möchten, dass ich das liebe Jesulein bleibe, das man so herzerwärmend besingen kann, das liebliche Christkind mit blond gelockten Haaren. Aber ich will mich nicht in der Krippe festhalten lassen, will mich nicht so entstellen lassen. Sie lassen mich nicht erwachsen werden. Was ich als Wanderprediger dann verkündet habe, das wollen sie nicht hören. Ich bin das Kind, der Jesus, der dreißig Jahre später den Weg nach Jerusalem gegangen ist, den Weg nach Golgotha, und den das Grab nicht festhalten konnte, weil ich den Tod besiegt habe.

   Die Menschen missbrauchen mich. In der Krippe liegend soll ich lieb und süß jedes Jahr ein Fest entfachen helfen, um die Umsätze in neue Höhen zu treiben. Es geht nicht um mich. Die Straßen werden nicht beleuchtet, weil man mir den Weg bereiten will. Sie singen von mir, meinen aber nicht mich. Sie produzieren jedes Jahr weihnachtliche Stimmung, treiben das Stimmungsbarometer in die Höhe bis zur Abartigkeit. Tatsächlich brauchen mich die Menschen aber gar nicht – wenn ich nur ruhig liegen bleibe, mild lächelnd, in dulci jubilo. Weihnachten hat mit mir immer weniger zu tun. Ihr macht Weihnachten ja längst schon ohne mich.

   Die Menschen lassen mir keinen Platz. In der Krippe soll ich liegen bleiben, auf Stroh gebettet. Aber diese Futterkrippe ist voll mit eurer Hartherzigkeit, Kälte und Unersättlichkeit. Da kann ich mich nicht hineinlegen. Da ist kein Platz mehr für mich. Meine Botschaft von der dienenden Liebe, der teilenden Armut, dem befreienden Loslassen des Vergänglichen kann hier nicht ihren Anfang nehmen. Was ich in der Bergpredigt gesagt habe, hat keinen Platz mehr in den Herzen der Menschen. Dort müsste die Krippe jedes einzelnen stehen. Wenn dort kein Platz ist, wenn mir nicht die Herzen der Menschen zur Krippe werden, kann ich mich nicht hineinlegen.  Meine Seligpreisungen will diese Welt nicht mehr hören. Einem, der mein Geheimnis der Menschwerdung erkannt hat, habe ich die prophetischen Worte in den Mund gelegt: Und wär‘ ich tausendmal in Betlehem geboren, aber nicht in dir, du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.

   Ich möchte Türen öffnen, aber die Menschen schließen gnadenlos Tür und Tor. Als ich Mensch wurde, da war die Tür für verachtete Hirten offen und für Könige. Meine Engel habe ich ausgeschickt, um den Hirten auf dem Feld zu verkünden, dass ich geboren bin, sie sollten zu mir kommen. Einen Stern habe ich beauftragt, Königen den Weg zu weisen zur Krippe. Aber die Menschen errichten Stacheldrahtzäune und Mauern, um Menschen fernzuhalten. Unweit von hier zerreißt eine lange, zehn Meter hohe schreckliche Mauer das Heilige Land, trennt Juden und Palästinenser, schürt den Hass. Der Stacheldraht eurer Zäune und Mauern schmerzt mehr als die Dornenkrone.

   Das sind wirklich einleuchtende Beweggründe für das Jesuskind, sich nicht mehr in die Krippe legen zu lassen, wer wollte sie nicht verstehen? Aber es sind menschliche, allzu menschliche Einwände, denn aus der Tiefe seines Inwendigen hört Herr Simon eine andere Stimme: „Ich würde es wieder tun. Deine Einwände sind richtig, aber genau deshalb müsste ich mir wieder die Krippe oder einen anderen armseligen Platz aussuchen. Ich würde wieder ja sagen zu den zwei gekreuzten Balken, die meine Krippe tragen, und zu den zwei gekreuzten Holzbalken auf Golgotha.“

 

© Josef Gredler