Josef Gredler

Meine Seele ist stille in dir

 

Viele Menschen leiden an einer Ruhelosigkeit. Ihr Inwendiges kommt nicht mehr zur Ruhe. Ihre Seelen sind aufgescheucht von dieser Welt, in der sie leben. Last und Angst drücken sie nieder, von Morgen bis zum Abend, lassen sie oft auch in der Nacht nicht mehr los, hindern sie am Einschlafen und unterbrechen den unruhigen Schlaf immer wieder, sodass sie dann am Morgen wenig ausgeruht den neuen Tag beginnen, der wieder an ihrer Seele nagt. Die Sehnsucht nach Ruhe und Stille ist groß, aber sie scheint bloß ein Traum zu sein, dessen Verwirklichung in „meinem Leben“, in „dieser Welt“ nicht möglich ist, weil alle Realitäten dagegenstehen. Im Lied Nummer 892 im neuen Gotteslob, dem Katholischen Gebet- und Gesangbuch der österreichischen Diözesen, finden sich Noten und ein Text dazu, der ganz konträr zur Erfahrung und Realität vieler Menschen steht.  Wer dieses Lied selber anstimmt oder nur mitsingt oder einfach zuhört, dem fällt vielleicht die innige Verbindung zwischen dem Text und der Melodie auf. Die Melodie nimmt Besitz von den Worten und die Worte kleiden sich in diese Melodie. Sie werden zu einer berührenden Einheit. In der ersten Strophe heißt es:

 

Meine Seele wird stille in dir,

denn ich weiß: Mich hält deine starke Hand.

Auch im dunklen Tal der Angst bist du da und schenkst Geborgenheit.

Meine Seele wird stille in dir.

 

Der Komponist dieses Liedes lässt jede Strophe mit dieser gewagten Feststellung beginnen: „Meine Seele ist still in dir.“ Erlaubt sich da jemand einen Scherz oder will da einer nur provozieren oder sind das bloß schwärmerische religiöse Gedanken jemandes, der jeglichen Bezug zur Realität verloren hat? Wie kann da jemand allen Ernstes behaupten, seine Seele sei stille in Gott, denn der und nur der ist mit „dir“ gemeint, wie der weitere Text dann zweifelsfrei erkennen lässt? Kann diese Welt, wie sie heute ist, jemandes Seele still sein lassen - in Gott? Unterstellen wir dem Verfasser dieser Zeilen einmal, dass sie seine Befindlichkeit bezeugen, auch wenn alle Zeichen der Zeit dagegensprechen. Seine Seele ist oder wird trotz allem stille in Gott, findet in Gott seine Ruhe. Weil er überzeugt ist, dass ihn eine starke Hand hält. Er fühlt sich von Gott gehalten, aufgefangen und spürt, dass Gott auch in diesem „dunklen Tal der Angst“ da ist und ihm Geborgenheit schenkt. Und deshalb ist seine Seele still, ruhig in Gott. Könnten diese Zeilen auch meine Zeilen werden? Ohne Zweifel will dieses Lied Nr. 892 auch mein Lied werden. Möchte ich das? Möchte ich, dass meine Seele in Gott zur Ruhe kommt, still wird, sich in Gott geborgen weiß? Wenn ich das möchte, dann lese ich in der zweiten Strophe:

 

Meine Seele ist stille in dir,

du allein bist der Gott, der gerne hilft.

Wer da bittet, der empfängt, aus dem Reichtum deiner Herrlichkeit.

Meine Seele ist stille in dir.

 

Diese erste Zeile ist keine billige Wiederholung. Sie kann nicht oft genug gesagt, gesungen und erfahren sein. Und wenn ich nur diese eine Zeile zu singen hätte, sie würde genügen. Aber in der zweiten wird uns gesagt, dass Gott einer ist, der gerne hilft. Gerne helfen – ein untrügliches Zeichen der Liebe. Und wenn wir bittend zu ihm kommen, sind wir keine Narren, denn dieser Gott ist ein gebender Gott. Immer wieder empfangen wir aus dem „Reichtum seiner Herrlichkeit“, in der unsere Bitten – oft gewandelt – erhört werden zu unserem Heil und Segen. Deshalb darf meine Seele still sein in Gott. Und ich darf weiter singen:

 

Meine Seele ist stille in dir,

denn ich weiß: Du führst sicher an das Ziel.

Du kennst meinen nächsten Schritt und du weißt um die Gefahr der Nacht.

Meine Seele ist stille in dir.

 

Die erste Zeile jeder Strophe bildet mit der letzten eine Klammer, die aus der geronnen Erfahrung kommt, dass es tatsächlich so ist, dass „meine Seele“ still ist in Gott. Dazwischen lässt uns der Verfasser immer wieder wissen, warum er in Gott Ruhe findet und auch ich in Gott Ruhe finden kann. Gott führt ihn sicher an das Ziel, so sein Glaube, sein Vertrauen, seine Erfahrung. Das Leben des Menschen hat ein Ziel, ein erfüllendes Ziel, auch wenn das viele nicht mehr spüren, glauben, erkennen. Mein Leben hat ein Ziel, das diese Welt nicht ausblendet, aber gleichzeitig auch darüber hinausweist. Und du, Gott, führst mich sicher an dieses Ziel. Ohne jeden Zweifel eine ganz gewagte Behauptung, deren Vertrauen nur versteht, der davon bereits erfasst ist. Und auf einmal rückt mich diese Strophe in eine ganz enge persönliche Beziehung zu Gott, so eng, dass der sogar meinen nächsten Schritt kennt. Bei Tageslicht ist es leichter, sich auf den Weg zu machen und voranzukommen. Aber in der Nacht? Diese Welt scheint mit dem Bild der Nacht treffend erklärt zu sein. Und Gott weiß um die Gefahr der Nacht, der auch ich ausgesetzt bin wie unzählige andere Menschen. Auch wenn es Nacht ist im Leben, in der Welt. Meine Seele kann, darf ruhig sein in Gott.

 

Meine Seele ist ruhig in dir,

denn ich weißt: Du bist da und richtest auf,

wie der Regen dürres Land neu belebt und zum Erblühen bringt.

Meine Seele ist stille in dir.

 

Ich darf ganz ruhig sein und gelassen bleiben – in der Gewissheit, dass du da bist, aber nicht nur so. Das Leben drückt mich immer wieder nieder, aus eigener Kraft könnte ich mich nicht erheben, nicht aufstehen, aber du richtest mich auf, stellst mich wieder auf die Beine, dass ich weitergehen kann auf meinem Weg, den ich mit dir zu dir gehen darf. In einem ganz elementaren Bild führt mir dieses Lied vor Augen, was wirklich passiert. Mein Leben ist oft wir dürres Land. Die Trockenheit hat alles dahingerafft, alles Leben liegt darnieder, aber… Du richtest mich auf wie der Regen, der neues Leben schenkt und meine verwelkten Hoffnungen, mein verdorrtes Tun zum Erblühen bringt. Auch wenn die Zeichen ganz dagegensprechen, auch wenn es wider alle Vernunft ist: Meine Seele ist stille in dir. Der große Mystiker Johannes von Kreuz lässt neun der elf Strophen seines Gedichtes „Wie gut weiß ich den Quell“ enden mit „obwohl es Nacht ist“. Die letzten beiden enden mit „obwohl es Nacht ist“ und die letzte schließt mit „weil es ja Nacht ist“. Die Frage ist sehr ernst und eine große Herausforderung aller Gottgläubigkeit: Kann man mitten in der Nacht der Welt und des Lebens noch auf einen Gott vertrauen. Es sind Menschen, die dieser Welt ein gleichsam gottloses Gesicht geben.

Zuallererst ist dieses Lied aus dem Gotteslob für den Gottesdienst bestimmt. Es wäre aber auch ein ganz wunderbares (gemeinsames) Abendgebet zu Hause. Man könnte s auch nur so vor sich hin summen, immer wieder, wo auch immer und wie auch immer.

 

© Josef Gredler