Was wäre geschehen, wenn…?
Weihnachten war immer ein so schönes Fest, erinnert sich Martha. Seit die Kinder aus dem Haus sind und selber eine Familie haben, hat sich natürlich vieles geändert. Sie und ihr Mann feiern Weihnachten jetzt zwar anders, aber immer noch ganz innig. Die Tage um die Weihnacht sind ganz besondere Tage geblieben. Beide versuchen sie, sich jedes Jahr neu unter das Geheimnis der Menschwerdung Jesu zu stellen, so gut Menschen das eben können. Mit frommer Leidenschaft halten sie an den weihnachtlichen und vorweihnachtlichen Bräuchen fest. Auf dem Tisch im Wohnzimmer steht wie jedes Jahr ein schöner Adventkranz, dessen Kerzen sie jeden Abend anzünden, dann singen und beten sie miteinander. Zur Sorge, die immer auch da ist, wenn man Kinder und Enkelkinder hat, mischen sich Hoffnung und Freude. An der Wand hängt ein Adventkalender, der sie durch diese Tage führen soll bis hin zur Nacht, da Gott Mensch geworden ist. Am Fenster steht seit dem 4. Dezember eine Vase mit Barbarazweigen, die am Heiligen Abend hoffentlich blühen werden. Ihr Mann hat die Krippe schon zum ersten Adventsonntag aufgestellt, natürlich nicht mit Jesus, Maria und Josef und den Engeln, aber mit den Schafen und Hirten auf den Feldern von Betlehem. Es ist wirklich eine stille Zeit für sie.
Martha ist gerade dabei, Wünsche und Grüße zum Weihnachtsfest zu schreiben. Sie will sich nicht mit bloßen „frohe Weinachten“ begnügen, sondern überlegt sich für jeden ein paar Gedanken, die aus ihrem Herzen kommen und sich ein wenig an das Geheimnis dieser Tage heranzutasten versuchen, aber sich von jeder frommen Aufdringlichkeit fernhalten. Eigentlich versucht sie nichts anderes, als bei allen ein wenig weihnachtliche Freude zu wecken. Diese Zeilen hängt sie dann mit einem goldenen Band an die Weihnachtsgeschenke oder bringt sie in einem Briefumschlag zur Post. Es sind Stunden, die sie damit verbringt, aber die bereiten ihr keinen vorweihnachtlichen Stress, sondern sind für sie Gelegenheit zum Innehalten. Es liegt etwas besinnlich Heilsames in diesem Tun. Ihr Mann verbringt viel Zeit mit der Weihnachtskrippe. Die Hirtenfelder füllen sich immer mehr mit Schafen, Ziegen und Hirten. Neue Figuren werden aufgestellt, um das zunehmende Treiben in der Stadt darzustellen. Die Szenen wechseln immer wieder. Die himmlischen Heerscharen und die heilige Familie müssen noch warten. Beide, Martha und ihr Mann, sind in ihren Gedanken immer wieder im weihnachtlichen Geschehen vertieft, so wie der Evangelist Lukas schreibt: „In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, …“ Aber was wäre, wenn die Ereignisse damals einen ganz anderen Verlauf genommen hätten als in der ihnen so vertrauten Weihnachtsgeschichte? Bei dem Gedanken kommen sie gemeinsam ins Sinnieren, als auf ihrem Adventkranz schon alle vier Kerzen brennen:
Was wäre gewesen, wenn Josef und Maria in Betlehem nicht abgewiesen worden wären, als sie in größter Bedrängnis an einer Tür um Einlass baten, damit Maria ihr Kind zur Welt bringen kann? Was wäre gewesen, wenn da der Hausbesitzer oder seine Frau geöffnet, die Not der Stunde erkannt und voll erbarmender Anteilnahme gesagt hätte: „Ja, kommt herein, in diesem Zustand kann keine Frau draußen bleiben!“ Und wenn man den beiden dann eine Kammer, einen eigenen Winkel zumindest zugewiesen und alle notwendige Hilfe angeboten hätte? Lukas hätte die Geburtsgeschichte dann ganz anders schreiben müssen. Und was wäre dann mit unserer schönen Krippe, mit dem Stall, den Schafen und den Hirten? Aber wie schreibt Lukas weiter? „Sie gebar ihren Sohn…, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.“
Was wäre gewesen, wenn Josef und Maria nach vergeblicher Herbergssuche in allerhöchster Not endlich zum Stall gekommen wären, aber auch im Stall, bis zum letzten Winkel voll mit Schafen, beim besten Willen kein Platz mehr gewesen wäre für die beiden. Wenn nicht einmal eine Krippe dagewesen wäre. Hier hätte der Retter der Welt nicht zur Welt kommen können. Die ganze Szene, so wie wir sie in der Weihnachtskrippe darstellen, wäre unmöglich gewesen. Was hätte Josef getan oder was hätte er tun sollen? Die Schafe hinaustreiben? Aber gottlob war es nicht so und Maria konnte hier in diesem Viehunterstand ihre unmittelbar bevorstehende Niederkunft erwarten.
Und weiter heißt es bei Lukas, dass ein Engel des Herrn den Hirten, die auf freiem Feld Nachtwache hielten bei ihrer Herde, verkündete, dass in dieser Nacht der Retter geboren ist und dass sie das Kind in Windeln gewickelt in einer Krippe finden werden. Der Engel muss wohl ihre Sprache gesprochen haben, aber vielleicht haben diese einfachen Wanderhirten das himmlische Aramäisch des Engels nicht ganz verstanden. Was wäre gewesen, wenn die Hirten dann in die falsche Richtung gelaufen wären, zu einem anderen Viehstall, den sie leer vorgefunden hätten, kein Retter, kein Kind in der Krippe, nichts? Wie wäre die Weihnachtsgeschichte dann weitergegangen?
Und dann weiß Lukas, dass plötzlich eine ganze himmlische Heerschar da war, die Gott lobte „Ehre sei Gott in der Höhe…!“ Aber was wäre gewesen, wenn plötzlich ein heftiger Regen niedergegangen wäre, ein richtiger Wolkenbruch, was zur Winterszeit im Bergland von Judäa ja durchaus möglich war? Was wäre gewesen, wenn dieser Wolkenbruch das Gloria der Engel verhindert hätte. Und selbst wenn die himmlischen Heerscharen dem Regen getrotzt hätten, niemand hätte die Botschaft des Engels und das Lob der ganzen Engelschar gehört, weil die Hirten sich alle in einen der Viehunterstände verkrochen hatten.
Wie lange Maria und Josef mit ihrem Jesuskind da im Stall bleiben konnten, darüber schreibt Lukas nichts. Matthäus weiß, dass Sterndeuter, Weise aus dem Osten von einem Stern nach Betlehem geführt worden waren und der Stern genau über dem Haus – oder war es doch noch dieser Stall? – stehen blieb, in dem sie waren. Was wäre gewesen, wenn Josef bereits vor der Ankunft der Weisen von einem Engel im Traum erfahren hätte, dass er fliehen muss, weil Herodes das Kind sucht, um es zu töten? Dann wäre die Heilige Familie schon weg gewesen, als die Weisen endlich nach einem sehr langen und weiten Weg zum neugeborenen König der Juden gekommen wären. Sie wären bis auf den Grund ihrer Seele enttäuscht gewesen. Der weite Weg, die vielen Monate, die großen Entbehrungen und vielen Gefahren, alles umsonst. Hatte sie der Stern etwa getäuscht oder war ihre Fähigkeit, die Sterne am Himmel zu deuten, schon erloschen? Matthäus weiß, dass es nicht so war. „Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter. Da fielen sie nieder und huldigten ihm… und brachten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben dar.“
Ja, was wäre gewesen, wenn…? Da hätte noch vieles andere schiefgehen können. Martha und ihr Mann beenden ihr Sinnieren, wissend und vertrauend auf das, was in der Schrift steht und wie es Martha auf die Anhänger für die Geschenke und in die Weihnachtspost geschrieben hat und wie ihr Mann es in der Krippe jedes Jahr immer wieder darzustellen versucht. In ein paar Tagen wird diese Krippe in ihrem schönsten Glanz erstrahlen und die Anhänger, die vom Geheimnis dieser Nacht wissen, werden von den Geschenken gelöst.
© Josef Gredler