Josef Gredler

Licht für einen dunklen Winkel

 

   Es ist ein kalter Tag im Spätherbst. Die Sonne strahlt wie selten. Keine Wolke wagt sich in ihre Nähe. Heute gehört der Himmel ihr ganz allein. Zwei Grad zeigt das Thermometer an. Eingehüllt in einen dicken Mantel nehme ich meine Tasse, um den heißen Espresso draußen zu trinken. In einem ungestörten Winkel auf der Terrasse möchte ich die spätherbstliche Sonne genießen, mit fast zugekniffenen Augen in ihr Licht schauen, mich von ihren wärmenden Strahlen berühren lassen, die von der Wand hinter mir noch verstärkt werden, sodass ich ihre wohltuende Wärme am ganzen Körper spüre. Es ist schon Mitte November. In gut zwei Wochen ist der erste Adventsonntag. Seit jeher ein wichtiger Tag für mich. Ich freue mich darauf. Diese Freude wird allmählich zu einem Nachdenken über einen geeigneten Adventbegleiter, den ich mir jedes Jahr suche, damit er mich einstimme in diese kommenden Wochen vor dem großen Fest der Menschwerdung Gottes. Seit meiner Kindheit haben diese Wochen etwas ganz Besonderes an sich. Schon immer haben sie sich von den anderen Wochen des Jahres abgehoben, schon rein äußerlich, aber auch inwendig. Was könnte es heuer sein, das mir hilft, zumindest in Ansätzen ein adventlicher Mensch zu werden?

   Da tauchen in meiner Erinnerung die vielen Adventkalender auf, die zuerst an die Tür meines Kinderzimmers geheftet waren, um jeden Tag voller Erwartung ein Türchen zu öffnen. Noch heute hängt bei uns daheim ein Adventkalender, nicht mehr mit Türen, die sich dem kindlichen Auge öffnen, aber mit einem kleinen Ritual für jeden Tag. Und die Zeit dafür ist heilig. In meinem ganzen Leben hat es noch nie ein Jahr ohne Adventkranz gegeben. Über sechzig Adventkränze haben mit ihren brennenden Kerzen ihre Eindrücke in meiner Seele hinterlassen. Seit meiner Kindheit klingen in mir viele Adventlieder nach. Eines dieser Lieder, obwohl gar nicht für Kinder bestimmt, ist mir seit Kindestagen in besonderer emotionaler Erinnerung: „Tauet Himmel den Gerechten!“ Mit orgelmächtiger Begleitung am Vorabend des ersten Adventsonntags im Dunkel der Kirche gesungen. Nur die erste Kerze am großen Adventkranz im Altarraum durfte diese Dunkelheit ein wenig erhellen.

   Adventkalender, Adventkranz, Adventlieder, das alles wird es natürlich auch heuer geben. Für unsere Enkelkinder habe ich wieder einen Fensterbildadventkalender vorbereitet. Jeden Tag eine Adventgeschichte und dazu wird ein neues Fensterbild sichtbar. Advent hat mich immer unverwechselbar gestimmt. Wie sehr wünsche ich mir, dass auch unsere Enkelkinder adventlich berührt werden, sodass sie sich später auch einmal zurückerinnern und ihren Kindern, Enkelkindern… Einstimmen hat auch etwas mit Neuwerden zu tun. Dazu sind wirklich gute Vorsätze hilfreich, wobei ich jetzt nicht an freudlosen schwergewichtigen denke, was man alles nicht tun darf. Die meinen dürfen kleiner sein, aber sollten einem Lächeln ähneln. Adventvorsätze sind nicht nur etwas für Kinder, die man bedrängt mit dem, was sie nicht tun dürfen oder tun müssen. Für uns Erwachsene müssen sie zwar ihre kindlichen Züge ablegen, sind aber ein Jahrhunderte lang erprobtes Mittel zum Neuwerden – ein bisschen wenigstens –, heute leider etwas in Vergessenheit geraten. Ganz im Sonnenlicht des verwehenden Herbstes geht mir auf einmal ein inneres, verfrühtes Adventlicht auf. Ich hab’s, ich habe ihn, den Vorsatz!

   Wir haben doch alle auch unsere dunklen Winkel – des Zweifels, der Angst, der Unruhe, einer Verletzung, Enttäuschung oder Unversöhntheit… Ich kenne mehrere dunkle Winkel in mir, die ausgeleuchtet werden sollten. Jetzt gerade ist die Sonne dabei, so einen Winkel in mir aufzuhellen. Dabei geht meiner erwachsenen Seele ein fast kindliches Licht auf: Jeden Tag jemand ein kleines Licht in einen dunklen Winkel seiner Seele stellen oder es zumindest versuchen, hoffend, uns selber jeden Tag ein wenig mehr hineinzuwandeln in jene unglaubliche Verheißung der Engel, die am Horizont eines jeden Advents aufleuchtet: Gott ist Mensch geworden.

 

© Josef Gredler